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- Illustratorin Ulli Lust
Schamlos durch die Eiszeit
Die Comic-Zeichnerin Ulli Lust erkundet in ihrem Sachbuch »Die Frau als Mensch« die Ur- und Frühgeschichte und zeigt selbstbewusste weibliche Körper
Sie sind in einem österreichischen Dorf aufgewachsen – zwischen einem fast nackten Jesus in der Kirche und einer keusch verhüllten Maria. Wann sind Sie auf die Idee gekommen, solchen Körperdarstellungen auf den Grund zu gehen?
Als Kind ist mir noch nicht so aufgefallen, dass irgendwas mit den Geschlechterverhältnissen nicht stimmt. Ich hatte zwei Schwestern und eine Mutter, die recht selbstbewusst war – und unser Vater war ein netter Mann. In der Kirche fiel allerdings schon auf, dass die Mädchen benachteiligt waren, weil nur die Jungs ministrieren durften. Aber es herrschte auch diese Aufbruchstimmung der 70er Jahre und man dachte: Es wird bald Gleichberechtigung herrschen.
Als wir dann erwachsen wurden, tauchten plötzlich viele Beschränkungen und Vorurteile auf, denen man als Frau unterworfen ist. Mir fiel auf, dass sich das in der Kunst widerspiegelt. Wenn man in Altstädten spazieren geht, sieht man immer berühmte Herren der Weltgeschichte, aber nur wenige Porträts von Frauen. Das sind dann eher allegorische Darstellungen: Göttinnen, Figuren und Nackte. Ich beschreibe am Anfang meines Comics die Irritation darüber, warum Frauen in der Kunst so komisch dargestellt werden, immer leicht verschämt. So wie diese Liebesgöttin im British Museum in London, die »kauernde Aphrodite«, die beim Baden überrascht wird und versucht, ihre Scham zu verbergen. In dem Raum sind lauter männliche Nackte, und in der Mitte steht diese eine Frau, die von allen umringt wird. Das ist eine absurde Inszenierung, die mir zu denken gegeben hat.
Ulli Lust wurde 1967 in Wien geboren. Von 1999 bis 2004 studierte sie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Sie lebt und zeichnet in Berlin. Über die deutschsprachigen Grenzen hinaus bekannt wurde sie durch ihren autobiografischen Comic »Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens« (2009), der mit dem Ignatz Award und dem Los Angeles Times Book Award ausgezeichnet wurde. Ulli Lust gilt als eine der wichtigsten deutschsprachigen Comic-Zeichner*innen und als Vertreter*in des dokumentarischen Comics.
Wann hat es angefangen, dass Frauen so verschämt dargestellt werden?
Das lässt sich ganz klar bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Auch im alten Ägypten war man sehr prüde, da hat man sich nicht ausgezogen, weder Männer noch Frauen. Es gab höchstens eine kultische Nacktheit bei Göttern. Im antiken Griechenland war es verboten, Frauen nackt zu zeigen. Sie sollten immer angezogen sein, außer es handelte sich um eine Göttin. Dadurch hat sich der weibliche Körper sehr sexualisiert. Der nackte Körper ist plötzlich immer die Liebesgöttin. Es ist immer erotisch gemeint, es gibt gar keine natürliche weibliche Nacktheit in der alten klassischen Prägung. Natürliche Schönheit gibt es nur für männliche Körper, den idealen Menschen. Das ist eine rein kulturelle Prägung, die man in den früheren Kunstwerken nicht sieht.
Was sagen Körperbilder und -darstellungen über unsere Gesellschaft? Stehen wir noch in der antiken Tradition?
Und wie. In meiner Kindheit habe ich erlebt, wie plötzlich im Schwimmbad im Nachbarort das Oben-ohne-Baden erlaubt wurde. Wir waren total aus dem Häuschen: Wer will denn oben ohne baden? So ein Blödsinn! Aber es wurde offiziell erlaubt, weil das die Zeit war. In der DDR war FKK auch komplett normal. Ich habe dann erlebt, wie in den 80ern der weibliche Körper entsexualisiert wurde. Man konnte ohne Kleider baden gehen, ohne dass man dauernd das Gefühl hatte, die Spanner laufen einem nach. Eine Normalisierung des Körpers setzte ein.
Aber in den letzten 20 Jahren hat sich über die sozialen Medien wieder so eine amerikanische Prüderie bei uns eingenistet. Einerseits hat man im Privatleben größere Möglichkeiten, auch offene Beziehungen sind stärker akzeptiert als früher. Aber wenn Brüste zu sehen sind, wird man auf Instagram gleich gesperrt. Die jungen Leute sind wieder prüder, als wir es damals waren. Wir hatten das Gefühl, die Scham überwinden zu müssen, weil das Unsinn und anerzogene Spießigkeit ist. Heute herrscht eine sehr starke Sexualisierung gegenüber dem nackten Körper, und ich finde, das ist keine gute Erscheinung.
Feministischer Kampftag
In Ihrem Buch begeben Sie sich auf die Suche nach Geschlechterbildern in der Frühzeit der Menschheit. Wie wurden Körper damals dargestellt?
Im Neolithikum und im Paläolithikum wurden Frauen sehr selbstbewusst oder souverän dargestellt, und sie haben auch keine männlichen Figuren, die ihnen beigestellt sind. Bei der Kunst, die ich im Comic porträtiere, gab es sehr viele Frauenfiguren und nur wenige Männer. Nackt sind sie alle – oder wenigstens zeigen sie alle Geschlechtsteile und selten ein Gesicht. Der Hintergrund dürfte sein, dass die Kunst als magische Praktik benutzt oder betrachtet wurde. Meine Vermutung ist, dass eine Angst vor der Wirkung von Gesichtern existierte, die man zeichnet.
Insgesamt gab es in der Eiszeit sehr wenig Kunst. Aber was es gab, war ganz toll. Als Künstlerin weiß ich, wie schwierig es ist, eine gewisse Fertigkeit zu bekommen, um lebensnahe Darstellungen zu erreichen. Eine hyperrealistische Darstellung von Tieren und Menschen ist eine künstlerische Leistung, für die man sehr viel üben muss.
Nach autobiografischen Erzählungen und einer Literaturadaption ist »Die Frau als Mensch« Ihr erstes Sachbuch. Wie war es für Sie als Künstlerin, Kunst zu zeichnen?
Seit ich Comics mache, beschäftige ich mich mit dokumentarischen Stoffen. Ich habe immer Material aus dem sogenannten echten Leben benutzt. In der Kunst beflügeln einen manchmal Beschränkungen. Beim Zeichnen von historischen Ereignissen muss man sich zwar sehr viel vorstellen, aber ich versuche, die wahrscheinlichste Variante einer Vergangenheit über Rechercheergebnisse zusammenzubauen. Ich lese selbst gerne archäologische Bücher. Da kam die Idee auf, diese Art von Inhalten als Comic zu zeichnen. Denn man kann im Bild Dinge visualisieren, die man im Text lange und mühsam erklären müsste. Hinzu kommt das Szenische, das ein Comic liefert. Dadurch kann man ins Alltagsleben der Menschen einsteigen. Das bringt viele Vorteile, wenn es um die Einfühlung in andere Gesellschaftssysteme oder historische Sachverhalte geht.
In diesem Fall ging es um visuelle Dinge, also Skulpturen. Dafür ist das Bild ein gutes Medium. Ich habe die Artefakte abgezeichnet und nicht durchgepaust, was wahrscheinlich korrekter gewesen wäre. Denn beim Abzeichnen kann es sein, dass man leichte Modifikationen einbaut. Aber mir ging es darum, zu begreifen, was ich zeichne. Dazu muss ich das Objekt sehr genau beobachten und kleinste Schwünge wahrnehmen. Dadurch ist meine Hochachtung vor den Künstler*innen noch um ein Vielfaches gewachsen.
Werfen wir mal einen Blick auf Ihren Beruf: Ist der Comic-Bereich ein männlich dominiertes Feld?
Früher war das der Fall. Da gab es diese Abenteuer-Comics und die Superhelden-Schiene, die sehr männlich dominiert war. Bis um die Jahrtausendwende richteten sich Comic-Läden in Deutschland sehr an Männer. Dann haben Frauen über die Graphic Novel das Comic-Business erobert. Darin geht es um andere Inhalte, weg von Horror, Abenteuer, Humor – hin zu einer bunten Bandbreite unterschiedlicher Textsorten oder Literaturen, in denen auch gern das Autobiografische betont wird. In Deutschland gibt es mittlerweile sehr viele erfolgreiche Zeichnerinnen, die Graphic Novels machen. Und dann gibt es die ganz große Manga-Schiene, die ich nicht so im Überblick habe. Aber auch dort zeichnen sehr viele Frauen.
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