»Atempause« für Autokonzerne

Aktionsplan der EU-Kommission stößt bei Umweltverbänden und Medizinern auf Kritik

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, posiert für ein Gruppenfoto mit führenden Vertretern der Automobilindustrie.
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, posiert für ein Gruppenfoto mit führenden Vertretern der Automobilindustrie.

Die europäischen Autobauer scheinen beim Strategiedialog mit der Europäischen Kommission auf offene Ohren gestoßen zu sein. Laut einem am Donnerstag vorgelegten Aktionsplan will Brüssel die Umweltauflagen aus dem »Green Deal« der EU so anpassen, dass sie kein Hindernis für die europäischen Autohersteller im Vergleich zur weltweiten Konkurrenz bilden. So soll die Branche bis 2027 Zeit bekommen, um das eigentlich für dieses Jahr geplante neue CO2-Emissionsziel für Pkw zu erreichen. Dadurch werden auch mögliche Strafzahlungen auf später verschoben. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte Herstellern bereits zuvor eine »Atempause« in Aussicht gestellt.

Die Schwerpunkte des Aktionsplans sind E-Mobilität sowie vernetztes und autonomes Fahren. Die Kommission möchte mit 1,8 Milliarden Euro den Aufbau einer Produktion von Autobatterien fördern. Die Digitalisierung des Automobilsektors inklusive Künstlicher Intelligenz soll gestärkt und dafür eine »Europäische Allianz für vernetztes und autonomes Fahren« gegründet werden. Für den Lkw-Bereich sollen für die Einrichtung von schnellen E-Ladepunkten 570 Millionen Euro zusätzlich bis Ende 2026 zur Verfügung gestellt werden.

Der Vorschlag, der vor Inkrafttreten noch vom EU-Parlament und von den Mitgliedstaaten bestätigt werden muss, ist das Ergebnis von Ende Januar in Brüssel begonnenen Strategiegesprächen zwischen Branchenvertretern etwa von BMW, VW und Renault sowie der EU-Kommission, Gewerkschaften und Umweltverbänden.

Der europäische NGO-Dachverband Transport and Environment (T&E) kritisierte indes die geplante Lockerung umgehend: »Jetzt einzuknicken, sichert der europäischen Automobilindustrie kurzfristig Gewinne, lässt aber langfristig den Rückstand auf China noch größer werden«, sagte T&E-Direktor William Todts. Die Abschwächung belohne Hersteller, die die Ziele verfehlt haben, betont Todts, der an den Strategiegesprächen teilgenommen hatte.

Hintergrund ist, dass die Hersteller wegen verfehlter Flottengrenzwerte hohe Strafzahlungen befürchten mussten. Der europäische Automobilherstellerverband Acea warnte vor Strafen in Höhe von 16 Milliarden Euro. Der laute Ruf nach Entlastungen sei vor allem heiße Luft, entgegnet der Mobilitätsexperte des zivilgesellschaftlichen Bündnisses Klima-Allianz Deutschland, Jonas Becker. Nach aktuellen Schätzungen von unabhängigen Instituten würden die Strafzahlungen gering ausfallen.

»Jetzt einzuknicken, sichert der europäischen Automobilindustrie kurzfristig Gewinne, lässt aber langfristig den Rückstand auf China noch größer werden.«

William Todts Transport and Environment

Eine Lockerung der Flottengrenzwerte sei daher absurd, meint Becker. »Erstens halten viele Hersteller die Werte ein und zweitens werden damit auch andere Pkw-Ziele wie das Verbrenner-Aus infrage gestellt.«

Die Flottengrenzwerte legen fest, wie viel CO2 alle neu zugelassenen Autos in der EU durchschnittlich ausstoßen dürfen. Bis 2024 lag dieser Wert bei 115 Gramm CO2 pro Kilometer und Fahrzeug. Dieses Jahr hätte er auf knapp 94 Gramm sinken sollen. Davon ist die Branche gegenwärtig jedoch weit entfernt – erreicht wurden letztes Jahr 107 Gramm.

Neben den Strafzahlungen hätte akut der Verlust von 440 000 Arbeitsplätzen gedroht, mahnte dagegen Guido Guidesi, Vorsitzender der Allianz der Automobilregionen in Europa. Der bisherige politische Weg sei »wirtschaftlicher Suizid«.

Zu einer ganz anderen Einschätzung ist eine von T&E in Auftrag gegebene Analyse zweier Automotive-Institute gekommen: Bei einer Aufweichung der EU-Flottengrenzwerte würden etwa in Ostdeutschland massive Jobverluste drohen. Wenn die Emissionsziele bestehen bleiben, könnten in der Region hingegen knapp 10 000 neue Arbeitsplätze entstehen. Ostdeutschland hätte dann die Chance, Schlüsselregion für die Automobilindustrie der Zukunft zu werden, sagte Sebastian Bock von T&E Deutschland.

Sachsen ist bereits heute ein Zentrum für die europäische Halbleiterindustrie. Dabei werden überwiegend Chips für die Autobranche hergestellt. Auch bei der Batterieproduktion kann Ostdeutschland laut der Analyse in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Die notwendige Expertise in der Chemie- und Metallindustrie sei vorhanden.

Noch bevor die Kommission bekannt gegeben hatte, den Forderungen der Branche nachkommen zu wollen, hatte Bock gewarnt: »Die EU darf nicht vor den Drohgebärden der Autoindustrie einknicken. Und die Autoindustrie muss endlich damit aufhören, ihre eigenen Zukunftsperspektiven zu sabotieren, indem sie versucht, die Emissionsziele für kurzfristige Profite zu verwässern.«

Der Aufschub bei den Flottengrenzwerten würde dazu führen, dass weniger E‑Autos verkauft werden und mehr CO2 ausgestoßen wird, so Becker von der Klima-Allianz. Auch das hat T&E durchgerechnet. Demnach würde durch eine Lockerung der Emissionsziele zwischen 2025 und 2027 rund 1,8 Millionen E‑Autos weniger verkauft werden.

»Abgase aus Verbrennungsmotoren verschmutzen die Luft, die wir atmen, und beschleunigen die Klimakrise.«

Offener Brief von mehr als 700 Ärzt*innen an EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen

In einem offenen Brief hatten sich kürzlich auch mehr als 700 Ärzt*innen an die EU-Kommissionspräsidentin gewandt. »Abgase aus Verbrennungsmotoren verschmutzen die Luft, die wir atmen, und beschleunigen die Klimakrise«, schreiben sie. Unterzeichnet wurde der Brief unter anderem vom Präsidenten der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt und der Epidemiologin Sabine Gabrysch von der Berliner Charité. Auch die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin und zahlreiche weitere Institutionen haben unterschrieben.

Die Luftschadstoffe durch den Autoverkehr seien besonders in Städten ein großes Problem, mahnen die Unterzeichnenden. Feinstaub und Stickoxide erhöhten das Risiko von Allergien, Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Schlaganfällen. Die Europäische Umweltagentur führt EU-weit rund 300 000 Todesfälle pro Jahr auf die zu hohe Luftverschmutzung, vor allem in Städten, zurück.

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