Massaker in Syrien: Wacklige Machtbalance

Cyrus Salimi-Asl zu den Massakern an Minderheiten in Syrien

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 4 Min.
Interimspräsident Ahmad Al-Scharaa beschwörte die Einheit aller Syrer bei der nationalen Dialogkonferenz am 25. Februar 2025 in Damaskus. Davon ist nicht mehr viel übrig.
Interimspräsident Ahmad Al-Scharaa beschwörte die Einheit aller Syrer bei der nationalen Dialogkonferenz am 25. Februar 2025 in Damaskus. Davon ist nicht mehr viel übrig.

Mehr als 1000 Tote in wenigen Tagen, darunter viele Zivilisten, sind eine erschreckend hohe Zahl und lassen große Zweifel aufkommen an der Ernsthaftigkeit, mit der die neuen syrischen Machthaber die Einheit Syriens fast mantraartig immer wieder betonen. Aufgrund der Augenzeugenberichte besteht kein Zweifel, dass Soldaten und Milizionäre der Übergangsregierung oder in deren Auftrag, darunter anscheinend auch ausländische Kämpfer, schwere Menschenrechtsverbrechen begangen haben: Menschen, pauschal als Alawiten und damit Anhänger des gestürzten Langzeitherrschers Baschar Al-Assad markiert, wurden offenbar zum Abschuss freigegeben.

Dafür spricht schon das offene Eingeständnis der Machthaber, »in Einzelfällen« hätten Sicherheitskräfte Verbrechen begangen, diese würden aber zur Verantwortung gezogen. Die Behörden machen für die Hinrichtungen nun außer Kontrolle geratene bewaffnete Milizen verantwortlich, die die offiziellen Sicherheitskräfte unterstützten und sich an Assads Anhängern für frühere Verbrechen rächen wollten. Wie glaubhaft diese Erklärung ist, lässt sich kaum nachprüfen. Die Webseite »Middle East Eye« zitiert eine Augenzeugin, wonach es sich bei den Tätern tatsächlich nicht um HTS-Kämpfer gehandelt haben soll, sondern um »Terrorgruppen«.

Innersyrische Konflikte werden zunehmen

Doch der Ton gegenüber Gegnern der neuen Regierung ist hörbar rauer geworden. Übergangspräsident Ahmad Al-Scharaa stellte seine Skrupellosigkeit bereits am Freitag unter Beweis, als er die Anhänger von Assad zur Kapitulation aufforderte. Die alawitischen Kämpfer müssten sich ergeben, »bevor es zu spät ist«, sagte er in einer Ansprache im Onlinedienst Telegram und fügte fast im Duktus Donald Trumps hinzu: »Sie haben sich gegen alle Syrer gewandt und einen unverzeihlichen Fehler begangen. Der Gegenschlag ist gekommen.«

Die Konflikte zwischen der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung, die heute direkt durch die aus der islamistischen Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) hervorgegangene Übergangsregierung repräsentiert wird, und den vielen Minderheiten in Syrien dürften sich zuspitzen. Die Alawiten, die mehrheitlich an der Mittelmeerküste rund um Latakia und Tartus leben, zahlen nun einen hohen Preis für ihre Loyalität zum Assad-Regime, von dem sie sich Schutz versprachen gegen die sunnitische Bevölkerungsmehrheit und zu dessen Mittätern einige wurden.

Drohung mit Sanktionen

Dass es zu Vergeltungsmaßnahmen und Racheakten seitens der »Sieger« an den regimetreuen Gruppen kommen würde, konnte man sich ausrechnen – trotz aller Versicherungen der neuen Machthaber, gegen Rechtsbrecher vorzugehen. Von diesen Versprechungen ist nicht viel geblieben. Jetzt geht es darum, wer die Macht in der Hand behält. Und die Männer der HTS, die jetzt die Regierung führen, allen voran der ehemalige Milizenchef Ahmad Al-Scharaa, werden diese nicht so einfach aus der Hand geben.

Ein Aufruf, die Gewalt einzustellen und die Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen, wie ihn unter anderem Deutschland an Übergangspräsident Ahmad Al-Scharaa gerichtet hat, reicht nicht aus, um Schlimmeres zu verhindern. Jetzt ist der Moment gekommen, ernsthaft anzudrohen, die bis dato aufgehobenen Wirtschaftssanktionen umgehend wieder in Kraft zu setzen, sollte Syrien keinen inklusiven und gewaltfreien Weg gehen.

Hinweise auf gezielte Angriffe regierungsfeindlicher Gruppen

Die andere Seite des Massakers ist der offensichtliche Versuch regierungsfeindlicher oder Assad-treuer Gruppen, sich ihre lokale Machtposition zu sichern und die Waffen nicht abzugeben. Es gibt Hinweise, dass die Angriffe auf die Kämpfer der Übergangsregierung geplant waren, diese in einen Hinterhalt gelockt wurden. Anscheinend gab es auch Anschläge auf kritische Infrastruktur wie Strom- und Telekommunikationsleitungen, Wasserpumpstationen und Treibstoffdepots sowie ein Gaskraftwerk. »Sie versuchen nun, Chaos zu stiften, das Leben zu stören und wichtige Einrichtungen anzugreifen«, zitiert die Agentur Reuters eine ungenannte Sicherheitsquelle der Übergangsregierung.

Das fragile Gleichgewicht zwischen den Volksgruppen könnte schnell kippen, auch mithilfe externer Mächte wie Israel oder der Türkei, die handfeste Interessen in Syrien verfolgen, aus denen sie auch keinen Hehl machen. Das Nachsehen hätten die Syrerinnen und Syrer.

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