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Winter Is Coming
Bienen, Blumen, Blinzeln? Der Frühling ist nicht zum Entspannen da!
»Mein Leben / im Sonnenschein / Alle lieben den Sonnenschein / Sonnenschein / Alle lieben den Sonnenschein / Sonnenschein.« Mit diesen Versen (im Original auf Englisch) beginnt ein beliebtes Lied aus dem Jahr 1976. Es ist also jetzt knapp 50 Jahre alt. Geschrieben und aufgenommen hat es der Soul-Funk-Jazz-Vibraphonist Roy Ayers mit seiner Band Ubiquity. Die ersten Zeilen, sagte er, seien ihm an einem »wunderbaren heißen, sonnigen Tag« in New York eingefallen. Das Lied ist eine Art Evergreen geworden und sein Refrain wurde von R&B- und HipHop-Künstlern vermutlich 100 Mal gesampelt.
Es ist eine Hymne an das Dolcefarniente und den Müßiggang bei schönem Wetter. Seinerzeit, in den Goldenen Siebzigern, als die Hippies sich anschickten, die Epoche der Stechuhr zu beenden, und als das Wort »Arbeitszeitverkürzung« noch keine Drohung, sondern ein Versprechen war, galt es als »ausgemacht, dass die Glückseligkeit sich in der Muße findet«. War’s Allen Ginsberg oder Aristoteles, der das gesagt hat? Egal. Erst mal ein Glas Wein eingießen beziehungsweise eine Tüte drehen. Wer in den Tag hineinlebte mit der Maxime, dass das Vergnügen das Einzige ist, wofür man leben sollte, galt unter halbwegs zurechnungsfähigen Personen damals als weise und nicht als Wirtschaftsschädling, wie heute.
»Einfach nur Bienen und Sachen und Blumen / einfach nur Bienen und Sachen und Blumen«, singt Roy Ayers – neben seiner Apologie des Sonnenscheins – im eingangs genannten Lied und erfasst mit diesen Worten das sich angenehm anfühlende geistige Vakuum, dessen man teilhaftig werden kann, wenn man im Hochsommer auf einer Wiese oder in einem Park liegt und planvoll nichts tut, außer sich auszustrecken und in den blauen Himmel zu blicken. Es ist ein Gefühl, nach dem viele sich sehnen: abschalten, ausruhen, nicht mehr Arbeit und anderen Zwängen ausgesetzt sein, nicht mehr auf die Uhr sehen müssen, nicht mehr permanent funktionieren müssen, das grauenhafte Dauerelend der Politik vergessen, sich von der Sonne bescheinen lassen, den Bienen zuschauen (solange noch welche existieren), den Blumenduft einatmen.
Roy Ayers ist in der vergangenen Woche im Alter von 84 Jahren gestorben. Und mit ihm vermutlich auch die permissive Ära, die er repräsentierte.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Auch wenn gerade die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings die Reste des deutschen Winters vertreiben, dürften nicht nur die sonnigen Jahre vorerst zu Ende sein, sondern auch die Zeit der Muße und des Ausstreckens: Wenn es aufwärts gehen soll mit der Wirtschaft – das heißt übersetzt: wenn die bevorstehende Lohnsenkungs- und Entlassungswelle nicht Sie treffen soll, sondern besser Ihre Kollegen, und wenn die Gewinne Ihres Chefs steigen sollen –, müssen auch Sie Ihren Anteil leisten. Na ja, was heißt schon »müssen«. Sagen wir’s so: Sie werden ihn ganz engagiert leisten, wenn erst die Zustände hergestellt sein werden, auf die wir nicht allzu lange werden warten müssen, wenn Friedrich Merz demnächst seine Frühlingsgefühle bekommt.
Mit der Schönwetterperiode ist bald Schluss. »Tiefenentspannt« ist nur ein anderes Wort für »unproduktiv«. Und das Wort »Pause« – eine Erfindung der Kommunisten, um unsere Wirtschaft zu sabotieren – kann vorsorglich schon mal aus dem Duden getilgt werden. Vom Blumen- und Bienenbeobachten allein wird der Kühlschrank jedenfalls nicht voll, und auch mit der hingebungsvollsten Liebe zum Sonnenschein ist die Miete noch nicht bezahlt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Der Tag hat 24 Stunden, und mindestens 16 davon werden leider gegenwärtig sinnlos vertrödelt mit überflüssigem Treiben wie Chat-Nachrichten-Versenden, Biertrinken, Bingewatching und Schlaf. Das muss nicht sein. Jede Halbsekunde dieser toten Zeit könnte stattdessen zugunsten der deutschen Wirtschaft verwendet werden. Damit das klar ist: Keiner wird in unserer freien Gesellschaft dazu genötigt, untätig zu sein und seine Zeit zu verplempern, jeder hat das Recht, produktiv zu sein und seinem würdelosen Nichtsnutzdasein einen Sinn zu verleihen. Die veraltete linksextremistische Zwangsvorstellung, dass ein Arbeitstag nicht mehr als acht Stunden haben dürfe, gehört jedenfalls demnächst der Welt von gestern an.
»60 Stunden ist der Sweetspot für Produktivität«, teilte Sergey Brin, Mitgründer des beliebten US-amerikanischen Unternehmens Google, neulich der Öffentlichkeit mit. Angestellte sollten, Sonnenschein hin oder her, »mindestens 60 Stunden« wöchentlich arbeiten. Wer’s nicht weiß: Die Tech-Firma Google ist so etwas Ähnliches wie das Unternehmen Cyberdyne Systems aus der »Terminator«-Filmreihe, nur eben in unserer Gegenwart existierend. Und sie hat noch einiges abzuarbeiten, wenn wir rechtzeitig in der Zukunft ankommen wollen.
Ich bin mir nicht sicher, ob in dieser Zukunft statt Roy Ayers’ angestaubtem und völlig aus der Zeit gefallenen Faulenzer-Lied nicht besser andere Songs die gesellschaftliche Marschrichtung vorgeben sollten. Zum Beispiel das Stück »Bloß weil ich friere« von den Goldenen Zitronen: »Bloß weil ich friere, ist noch lang nicht Winter / Bloß weil ich friere, ist noch lang nicht Winter / Ich krieg’ jetzt schon Panik, wenn ich daran denke, dass ich morgen / Wieder einen ganzen Tag vor mir habe, bis ich wieder schlafen kann.«
Sicher ist jedenfalls: »Work-Life-Balance« wird künftig nicht mehr gebraucht. Vom Life bleibt ja nicht mehr so viel übrig demnächst.
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