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Die tendenziöse Sprache der »Tagesschau«

Israelische Gewalt im Nahost-Konflikt wird eingebettet, palästinensische emotionalisiert

  • Fabian Goldmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Kein einziges Mal benutzten Sprecher der »Tagesschau« den Begriff »Massaker« für israelische Gewalt.
Kein einziges Mal benutzten Sprecher der »Tagesschau« den Begriff »Massaker« für israelische Gewalt.

Über anderthalb Jahre dauert der Krieg in Nahost. Genauso lang hält die Empörung über die Berichterstattung deutscher Medien an. Im Zentrum der Kritik steht die »Tagesschau«. Schon im Oktober 2023 machte der Leak einer 47-seitigen ARD-internen Sprachregelung Schlagzeilen. Damit sollen Mitarbeiter des Senders gebrieft worden sein, nur bestimmte Formulierungen in der Berichterstattung zu verwenden. Demnach seien Angriffe der israelischen Armee »Reaktionen«, die »Gegenangriffe« genannt werden sollten.

Schlagen sich solche Sprachregelungen wirklich in der realen Berichterstattung nieder? Um das herauszufinden, habe ich mir das nachrichtliche Aushängeschild der ARD näher angeschaut und alle 471 Abendnachrichten der »Tagesschau« zwischen dem 7. Oktober 2023 (Angriff der Hamas auf Israel) und dem 19. Januar 2025 (Beginn der »Waffenruhe«) im Hinblick auf die Verwendung des Wortes »Reaktion« oder Abwandlungen davon ausgewertet.

Insgesamt 111 mal wurde in der »Tagesschau« in 15 Monaten Berichterstattung zum Nahen Osten mit Gewalt »reagiert«, »geantwortet«, »zurückgeschlagen« oder diese »erwidert«. Hinzu kommen 45 »Gegenangriffe« und »Gegenschläge«. In 156 Fällen bezeichnete die »Tagesschau« also sprachlich Gewalttaten als Konsequenz vorangegangener Ereignisse. In 103 Fällen (66 Prozent) waren damit israelische Angriffe gemeint. Weit abgeschlagen mit 18-mal »Reaktion« auf Platz zwei landet der Iran. Meist handelte es sich dabei allerdings um Zitate iranischer Politiker und nicht um Äußerungen durch die »Tagesschau«-Sprecher. Den dritten Platz belegen die USA, die in der Darstellung der »Tagesschau« meist auf Gewalttaten der jemenitischen Huthi-Miliz »reagierten«.

Palästinensische Gewalttaten – sei es durch Hamas oder andere Gruppen – stellte die »Tagesschau« hingegen in 15 Monaten kein einziges Mal als Konsequenz auf vorangegangene israelische Gewalt dar. In dieser Zeit berichtete die Sendung aber überproportional über palästinensische Gewalt. Gleichzeitig hätte es infolge Zehntausender israelischer Angriffe jede Menge Gelegenheiten gegeben, die palästinensischen als »Reaktion« darauf zu bezeichnen.

Palästinensische Gewalttaten stellte die »Tagesschau« in 15 Monaten kein einziges Mal als Konsequenz auf vorangegangene israelische Gewalt dar.

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In der täglichen Berichterstattung der »Tagesschau« scheint also nicht der konkrete Angriff und dessen Umstände über die dafür gewählte Formulierung zu entscheiden, sondern vielmehr, ob dieser von Israel oder der Hamas ausging. Nicht die Tat ist demnach entscheidend, sondern die Täter.

Diese pauschale Zuschreibung formuliert die »Tagesschau« auch immer wieder ganz explizit. Ein Jahr Krieg in Nahost fasst die »Tagesschau« am 7. Oktober 2024 zum Beispiel wie folgt zusammen: »Die Terroristen ermorden im Süden Israels fast 1200 Menschen und verschleppen über 240 in den Gazastreifen. Israel reagiert mit Luftangriffen.«

Während die »Tagesschau« die Begriffe »Reaktion« und »Gegenangriff« überwiegend zur Bezeichnung von Israel ausgehender Gewalt vorhält, fällt in der Berichterstattung der Begriff »Massaker« auf, der zur Bezeichnung palästinensischer Gewalt verwendet wird. Insgesamt 16-mal ist zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 19. Januar 2025 in der »Tagesschau« davon die Rede. In zehn Fällen ist damit der Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 gemeint. In sechs Fällen werden israelische Angriffe so bezeichnet. Dabei handelt es sich allerdings ausnahmslos um Zitate etwa von Überlebenden oder Politikern. Kein einziges Mal benutzen Sprecher oder Reporter der »Tagesschau« selbst den Begriff »Massaker« als Bezeichnung für israelische Gewalt – und das, obwohl etwa Menschenrechtsorganisationen Israels Armee Hunderte solcher Ereignisse anlasten.

Um sicherzugehen, ob die ARD den Begriff »Massaker« zur Bezeichnung von Gewalttaten durch die israelische Armee konsequent vermeidet, habe ich zusätzlich den »Nahost-Liveblog« auf der Website der »Tagesschau« ausgewertet. Hier wird weit umfassender als in ihren Abendnachrichten berichtet. Das Ergebnis ist eindeutig: Insgesamt 196-mal macht sich die Redaktion dort den Begriff »Massaker« zu eigen (ohne Zitate). Gemeint war ausschließlich der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023. Israelische »Massaker« bezeichnete sie kein einziges Mal als solche.

Während die »Tagesschau« israelische Gewalt also einbettet – und damit auch legitimiert –, wird palästinensische Gewalt durchgehend entkontextualisiert und emotionalisiert. Damit deckt sich die Berichterstattung mit den Vorgaben aus dem ARD-Glossar. Ob »Tagesschau«-Redakteure nun wirklich aufgrund interner Anweisungen oder anderer Gründe diese Formulierungen wählen, lässt sich nicht belegen. Sicher ist: Ein akkurates Bild vom seit anderthalb Jahren andauernden Krieg im Nahen Osten vermitteln sie so nicht.

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