Kälteschock im Peloton: Extrembedingungen bei Frühjahrsrennen

Die Radrennen Tirreno Adriatico und Paris-Nizza bringen Kälte und Wassermassen. Jonas Rutsch verpasst durch einen Sturz den möglichen Etappensieg

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
Mistwetter in Umbrien: Dauerregen auf der 4. Etappe des Tirreno Adriatico von Norcia nach Trasacco am Donnerstag
Mistwetter in Umbrien: Dauerregen auf der 4. Etappe des Tirreno Adriatico von Norcia nach Trasacco am Donnerstag

Die traditionellen Frühjahrsrennen im Straßenradsport sind mittlerweile zur Lotterie geworden. Im Süden und Westen Europas kann die Sonne prächtig scheinen. Die Sonnenstrahlen beim Etappenrennen Paris-Nizza wurden einst als so wohltuend empfunden, dass die Rundfahrt sich den Beinamen »Rennen zur Sonne« erwarb. In diesem Jahr schoben sich so mächtige Wolken aus Regentropfen und Hagelkörnern zwischen Sonne und Erdoberfläche, dass eine Etappe wegen der heftigen Niederschläge sogar zwischenzeitlich neutralisiert werden musste.

Kaum besser sah es beim parallel stattfindenden Tirreno Adriatico aus. »Rennen zwischen den Meeren« nennt man diese Mehretappenfahrt auch. Zum Tyrrhenischen Meer an der Westküste Italiens, wo die Rundfahrt stets beginnt, und der Adria an der Ostküste, wo sie endet, gesellte sich als dritte Wasserdimension noch der Himmel. Der ergoss solche Fluten auf das Peloton, dass man gut von einem dritten Meer sprechen konnte, eben dem von oben.

Natürlich waren die Teams vorbereitet. »Die Fahrer sind mehrfach ans Auto gekommen, um sich Regenjacken und andere Kleidungsstücke zu holen«, sagte Zak Dempster, sportlicher Leiter bei Ineos Grenadiers mit dem damaligen Gesamtführenden Filippo Ganna zu »nd«. »Wir haben auch viel heißen Tee ausgeschenkt«, ergänzte er. Wärme von innen, Wärmeschichten für außen – so lautete die Devise. Erschwerend kam allerdings die Länge mancher Regenetappen hinzu. Das dritte Teilstück etwa war 239 Kilometer lang. »Mailand-Sanremo des kleinen Mannes« nannte Radprofi Niklas Märkl deshalb halb scherzend diese Etappe. »Wir saßen sieben Stunden auf dem Rad. Das war für mich persönlich schon extrem. Fünf Stunden lang ging es, aber dann ist der Körper zusammengebrochen, da war nichts mehr im Tank«, so der Profi des niederländischen Rennstalls Picnic PostNL.

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Ärger erwischte es tags darauf Landsmann Jonas Rutsch. Der Odenwälder war auf bestem Wege, um für einen der wenigen Erfolge deutscher Profis bei diesem Rennen zu sorgen. In den fast 60 Jahren, die der Tirreno mittlerweile ausgetragen wird, gab es nur einen Gesamtsieg – 2007 mit Andreas Klöden – und 22 Etappensiege für deutsche Profis. Rutsch war in der Fluchtgruppe des Tages gut platziert, sie lief auch gut. Hinten zerteilte sich das Feld, was die Nachführarbeit erschwerte. »Wir waren uns recht einig und wussten auch, dass wir zusammenarbeiten müssen, wenn wir eine Chance haben wollen. Das hat gut funktioniert«, bilanzierte Rutsch gegenüber »nd«.

26 Kilometer vor dem Ziel lag er jedoch plötzlich auf dem Boden. Ursache war eine Schlammschicht auf dem Asphalt. »Ich war hinten in der Gruppe und sah schon, wie dem Mann ganz vorn in der Kurve das Hinterrad wegging«, schilderte er die Situation. Er versuchte noch zu bremsen. »Ich habe die Bremse nur angetippt. Aber sofort ist das Vorderrad weggegangen und ich habe da gelegen. Das war das Ende der Geschichte heute«, sagte er. Und er bilanzierte lakonisch: »Es ist etwas anderes, wenn ein 65- oder 70-Kilo-Fahrer die Bremse zieht, als wenn das ein 80-Kilo-Fahrer wie ich macht. Ich hatte keine Chance.«

Seine Fluchtgefährten bedauerten das. Denn sie wurden noch auf dem allerletzten Kilometer wieder eingefangen. Fluchtkollege Mirco Maestri aus Italien wurde dennoch Tagesfünfter. Er spekulierte, dass die Gruppe »mit zwei zusätzlichen Beinen«, eben denen von Rutsch, vielleicht durchgekommen wäre.

Geholfen hätte natürlich auch eine Warnung vor der Gefahrensituation. »Vielleicht hätte man dort jemand hinstellen können, denn es war wirklich schon eine schöne Schicht Schlamm auf dem Boden. Je nachdem, wo du auch im Feld fährst, ist es ja nicht unbedingt ersichtlich, dass da Dreck liegt«, erklärte er. Das war nicht geschehen.

Für die Königsetappe am Samstag hoch zum 7,4 Kilometer langen und bis zu neunprozentig steilen Frontignano sind ebenfalls Regenschauer angekündigt. In einigen Regionen Italiens, etwa in Florenz und Umgebung, war am Freitag sogar das öffentliche Leben teilweise eingeschränkt. Schulen blieben wegen des Wetters geschlossen, Bürgermeister riefen Unternehmen auf, ihre Angestellten im Homeoffice arbeiten zu lassen.

Die Radprofis werden mutmaßlich aber ihren Besten krönen. Als Favoriten haben sich der starke Spanier Juan Ayuso (vom Pogacar-Team UAE Emirates, und in Abwesenheit des slowenischen Anführers), der Italiener Antonio Tiberi (Bahrain) und der Kanadier Derek Gee (Israel Premier Tech) herauskristallisiert. Der britische Mitfavorit Tom Pidcock (Team Q36.5) liegt schon eine Minute zurück. An einen deutschen Gesamtsieg ist in diesem Jahr nicht zu denken. Bestenfalls noch an einen Etappensieg von Ausreißer Rutsch. Der will es weiter versuchen. »Der Tag hat zumindest gezeigt, dass die Beine gut sind«, zog er ein versöhnliches Fazit aus seinem Unglückstag.

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