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Türkei: Gewerkschafter im Visier

Staat reagiert mit Repression auf Mindestlohn-Proteste und wilde Streiks

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 4 Min.
Aufgrund der enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten kommt es in der Türkei immer wieder zu Streiks.
Aufgrund der enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten kommt es in der Türkei immer wieder zu Streiks.

Nachdem die türkische Regierung zu Beginn des Jahres einen neuen Satz für den Mindestlohn im Land verkündet hatte, kam es in der südöstlichen Provinz Gaziantep zu spontanen Arbeitsniederlegungen und Protesten. Einer der Streikführer, Mehmet Türkmen von der Gewerkschaft Birtek-Sen, wurde Mitte Februar festgenommen und sitzt seitdem in Haft. Ihm wird vorgeworfen, die Beschäftigten in ihrer Freiheit zur Arbeit eingeschränkt und sie zu Straftaten angestachelt zu haben.

Die wilden Streiks waren eine Reaktion auf die letzte Mindestlohnerhöhung der Regierung Anfang des Jahres von 20 000 Türkischen Lira brutto auf 26 000 TL (umgerechnet 651 Euro) – ein Anstieg von 30 Prozent. Unzureichend, wie die Gewerkschaft findet. Von dem Lohn der Beschäftigten muss häufig die ganze Familie ernährt werden. Laut dem Gewerkschaftsverband Türk-İş liegt die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie bei 75 973 TL. Und auch für eine alleinstehende Person liegt sie mit 30 206 TL über dem aktuellen Mindestlohn. Über Wasser halten kann sich eine Familie meist nur, wenn zusätzliche Jobs angenommen werden.

Geschäft mit Menschenrechtsverletzungen

Auch darum ist im Textilsektor Kinderarbeit nach wie vor stark verbreitet. »Mit der seit 2011 in der Türkei steigenden Zahl von Geflüchteten hat auch die Ausbeutung von Kinderarbeit eine neue Dimension erreicht«, schreibt die NGO Temiz Giyisi, die Teil der internationalen »Kampagne für saubere Kleidung« ist, in einem Bericht. Hiervon betroffen seien vor allem Menschen aus Syrien, so wie aus dem Irak, Afghanistan, Turkmenistan, Usbekistan und Somalia. »Arbeitgeber, die zur Senkung der Arbeitskosten minderjährige Arbeitskräfte beschäftigen, haben sich mit dem Anstieg der Zahl von Migranten zunehmend auf diese als billigere Arbeitskräfte konzentriert«, so die NGO.

Gaziantep liegt nur eine Autostunde von der syrischen Grenze entfernt und ist eine Hochburg der Textilproduktion und -verarbeitung in der Türkei. Bekannte Modemarken lassen dort produzieren; die EU-Länder gehören zu den wichtigsten Importeuren türkischer Textilprodukte. In dem Sektor arbeiten landesweit über 1,1 Millionen Menschen, doch nur 9,24 Prozent von ihnen sind Mitglied in einer der 18 Gewerkschaften in diesem Bereich.

Hürden für Gewerkschaften

Die Mitgliedschaft bedeutet ohnehin nicht, dass die Beschäftigten auch wirklich gewerkschaftlich vertreten werden. Denn das türkische Arbeitsrecht sieht zwei Hürden vor, bevor eine Gewerkschaft vom Arbeitsministerium die Berechtigung zu Tarifverhandlungen bekommt: Sie muss mindestens 51 Prozent der Belegschaft eines Betriebes organisieren sowie landesweit ein Prozent aller Arbeiter*innen aus ihrem Sektor.

Insbesondere für kleinere Gewerkschaften wie Birtek-Sen, die nach eigenen Angaben basisdemokratisch organisiert ist und über 1000 Mitglieder hat, sind die Hürden kaum überwindbar. Deshalb fordert die NGO Temiz Giyisi unter anderem deren Abschaffung. Auch appelliert sie an die internationalen Modefirmen, das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung zu respektieren und sich bei ihren Zulieferern dafür einzusetzen.

Wilde Streiks wie zu Beginn des Jahres haben in der Türkei zugenommen, da die Lebenshaltungskosten ungebremst ansteigen, die Löhne dies aber nicht ausgleichen. Die Inflation erreichte teils bis zu 60 Prozent. Im März sank die Teuerungsrate erstmals wieder unter die 40-Prozent-Marke. Hinzu kamen erhebliche Steuererhöhungen für Verbraucher*innen.

Proteste und Solidarität

Gewerkschaftliche Proteste in konservativ geprägten Regionen wie Gaziantep – bei den letzten Wahlen 2024 teilten sich die Stimmen zwischen der Regierungspartei AKP und der islamistischen Yeniden Refah Partisi auf – ermöglichen es, mit der Belegschaft politisch ins Gespräch zu kommen. Frühere Streikwellen haben immer wieder gezeigt, dass Misstrauen gegenüber Gewerkschaften oder linken Aktivist*innen auf Streikposten abgebaut werden konnte. Kritiker*innen vermuten einen Zusammenhang mit der Repression.

Der inhaftierte Gewerkschafter Mehmet Türkmen erhielt indes Unterstützung, unter anderem aus Deutschland. IG-BAU-Vorstandsmitglied Ulrike Laux verurteilte die Verhaftung als »aktiven Angriff gegen die Gewerkschaft«. Auch sei ein 15-tägiges Streik- und Versammlungsverbot, das der Gouverneur von Gaziantep im Februar erlassen hatte, »ein Skandal«. Kein Staat dürfe eingreifen, wenn Gewerkschaften für ihre Rechte kämpfen, kritisierte Laux. Auch gibt es eine Unterschriftenkampagne der Migrant*innenselbstorganisation DIDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine), die ein Ende der unrechtmäßigen Verhaftungen von Gewerkschafter*innen fordert. Birtek-Sen geht derzeit juristisch gegen die Maßnahmen vor.

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