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Fantasievoll mit Wörtern jammen

Sich selbst ausdrücken: Was hat eine Schreibwerkstatt mit einer Jam-Session im Jazz zu tun?

  • Erhard Meueler
  • Lesedauer: 9 Min.
Mit einer misslungenen Improvisation über dieses Bild von Vincent van Gogh fing alles an: »Caféterrasse am Abend«, gemalt 1888
Mit einer misslungenen Improvisation über dieses Bild von Vincent van Gogh fing alles an: »Caféterrasse am Abend«, gemalt 1888

Vincent van Goghs Bilder kommen wohl in jedem Schulunterricht vor – als abgenötigte Bildbeschreibungen im Fach Deutsch. Mich erwischte es vor langer Zeit in der fünften oder sechsten Klasse im Gymnasium Waldbröl. Es gab die Hausaufgabe, das Bild »Caféterrasse am Abend«, das van Gogh 1888 malte, zu beschreiben. Ich hatte keine Lust und konnte nicht ahnen, dass ich am nächsten Morgen als Erster drankommen würde, meine Bildbeschreibung der Klasse vorzutragen. Vor mir war das leere Heft, in mir Panik, da entschied ich blitzartig: »Ich improvisiere!«

Ich stand auf, schaute auf das aufgeschlagene Lesebuch mit dem Van-Gogh-Bild und legte aus dem Stegreif los, etwa so: »Zu sehen ist eine Gasse in einer Stadt an einem Sommerabend. Den Vordergrund bestimmt ein hell erleuchtetes Café, während der Hintergrund von einem wunderbar blau-goldenen Sternenhimmel über hohen schwarzen Häusern an der Straße, die sich weit nach hinten hinziehen, ausgefüllt wird …« Hier unterbrach mich die Lehrerin: »Lies bitte den letzten Satz noch einmal vor!« Ich: »Warum das?« Sie: »Ich möchte wissen, wo du das Komma gesetzt hast.«

Die wörtliche Wiederholung des Schachtelsatzes musste misslingen. Die Lehrerin ließ sich mein Schulheft geben, sah, das darin nichts stand und schrieb die Note »6« hinein, wegen »arglistiger Täuschung«, was auch im Klassenbuch vermerkt wurde. Meine Mutter musste in die Elternsprechstunde kommen. Dort erfuhr sie, dass ihr Sohn ein »unmäßig hinterhältiger Bursche« sei.

Aufschreiben, was das Herz begehrt

Viele Jahrzehnte später, im Oktober 2007, veröffentlichte ich eine Zeitungsanzeige, in der ich dazu einlud, in einer Gruppe improvisiertes Schreiben zu erproben; das aufzuschreiben, »was das Herz begehrt«. Die Menschen, die das möchten, wollen bewusst selbst schöpferisch tätig werden und nicht – wie in den üblichen Literatur-Zirkeln – lediglich fremde Literatur, die Dritte geschrieben haben, lesen und darüber diskutieren. Und so schreiben wir bis heute in der »Schreibwerkstatt« auf spielerische Weise Geschichten für Kinder und Erwachsene, Gedichte mit und ohne Reim, Märchen und Autobiografisches, über die Natur und über die Stadt. Es geht auch um lebensphilosophischen Fragen, vor allem aber anarchisch Fantasiertes und absurde Geschichten, oft angeregt von Musikstücken, Fotos, Cartoons und Bildern. Der zentrale Programmbegriff unserer Arbeit ist »Improvisation«: nicht als Not- oder Verlegenheitslösung, wie man das im Alltag gewohnt ist, sondern als künstlerische Praxis. Wir versuchen, aus dem Moment heraus kreativ zu schreiben.

Seit 2007 finden die Schreibsitzungen in der kühleren Jahreszeit statt, 14-täglich am Samstagnachmittag von 14.30 bis 17.30 Uhr, unterbrochen von einer Kaffee- und Kuchenpause. Zu Beginn mache ich thematische Schreib-Vorschläge, zu denen sich dann rund zehn Erwachsene – inklusive mir selbst – etwas einfallen lassen. Das wird dann in einer halben Stunde aufgeschrieben. Jeder arbeitet für sich alleine und zum Schluss wird vorgelesen. Wir sind jedes Mal gespannt, was an so einem Nachmittag herauskommt.

Es geht auch anders

Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.

Jeden Sonntag schon ab 19 Uhr in unserer App »nd.Digital«.

Das Vorbild dieser Schreib-Sessions ist die Jam-Session im Jazz: Wenn sich Musiker außerhalb ihrer eigenen Konzerte zum gemeinsamen Spielen verabreden. Dann nehmen sie sich eine Melodie aus der Musiktradition, sogenannte Standards vor und einigen sich auf Harmonien, die dazu passen. So kommt ein »spontanes und zweckfreies, d.h. von kommerziellen Interessen unbelastetes Zusammenspielen« zustande, wie der Musikwissenschaftler Ekkehard Jost schreibt. Möglich sind Solo- oder Kollektivimprovisationen, doch dabei müssen alle Musiker in der verabredeten Harmoniefolge bleiben und das Taktschema halten. Je mehr vorher abgesprochen wird, desto weniger kann frei improvisiert werden. Deshalb hört man bei Konzerten und auf Plattenaufnahmen in der Regel nur arrangierte Improvisationen.

Doch auch das Improvisieren beim Jammen bedarf einer Vorbereitung, es muss erlernt werden. Jazzgeschichtlich vollzog sich dieses Lernen bis in die 70er Jahre hinein im Wesentlichen stets autodidaktisch: über das Zuhören und über das Nachspielen, über Versuch und Irrtum. Mit dem Einzug der Jazzpädagogik in die (Musik)-Hochschulen seit Mitte der 70er Jahre konnte Improvisation dann anhand von schriftlich formulierten Regelsystemen regelrecht gepaukt werden. Seitdem erlernen Musiker die gleichen Improvisationsmuster, freie Spielformen wurden zur Ausnahme.

Das Improvisieren mit Wörtern ist nicht so eingeengt: Beim Jammen mit Wörtern ersetzt das verabredete Thema die Grundmelodie der Jazz-Session. An die Stelle der Harmonien tritt eine literarische Form (eine Geschichte, ein Gedicht), vor allem müssen sich die Einzelarbeiten der Teilnehmer nicht zu einem Gruppensound zusammenfinden. Jeder Schreiber geht mit ganz unterschiedlichen persönlichen Voraussetzungen und auf individuell je unterschiedliche Weise an die Aufgabe heran. Das Erlernen der Improvisation geschieht hier wie früher im Jazz autodidaktisch. Man hört die Schreibergebnisse der anderen und wird dadurch oft zur Weiterentwicklung des eigenen Schreibens angeregt: »So könnte ich es doch auch einmal versuchen …«

Zehn verschiedene Formen von Intelligenz

Schreibanreize können völlig unterschiedliche Themen sein: »Erfindet einen Buchautor samt Buchtitel plus Klappentext und Rezensionen«, »Beschreibt zehn verschiedene Formen von Intelligenz« oder »Setzt erste Sätze aus Romanen fort«. Sie können auch aus der Kombination zufällig gefundener Wörter bestehen wie zum Beispiel »der Pizzabäcker und der Heizlüfter«, oder man erfindet eine Geschichte, »in der Lebensmittel als Personen auftreten«. Gerät die Aufgabenstellung zu detailliert, kommen die Improvisationsmöglichkeiten zu kurz.

Ähnlich wie im Jazz der Bandleader achtet in der Schreibwerkstatt der Leiter auf eine gewisse Spannbreite – zwischen der Improvisation, die ermöglicht werden soll und auf das Arrangement, das reguliert. Der Leiter organisiert die Schreibgelegenheiten; den Anlass, der zum Schreiben anregt: Das können skurrile Meldungen in Zeitungen sein oder denkwürdige Situationen in Romanen oder originelle Alltagserlebnisse. Bei den Sitzungen spielt er nicht den Zensor oder Richter, denn hier gibt es keine Kommentare wie »du machst das richtig« oder »du machst das falsch«. Das ist der entscheidende Unterschied zu den Schreibwerkstätten, die wie Schreibschulen praktiziert werden, die oft von Schriftstellern angeleitet werden, die implizit fordern, am besten so zu schreiben, wie sie es tun.

In unserer Schreibwerkstatt drängt sich der Leiter nicht als kritischer Interpret zwischen die Vorleser und ihre Zuhörer. Er hütet sich bewusst vor der pädagogischen Riesenfalle der Besserwisserei. Die literarische Ethik, der er sich verpflichtet fühlt, heißt: die Förderung des Gefühls, Subjekt zu sein – durch improvisatorische Selbstbestimmung. Selbstverantwortung wird durch freiheitliches Fantasieren ermöglicht.

Das gemeinsame Schreiben kommt ohne literarische Kritik, vor allem ohne den sonst üblichen, oft genug aber diskriminierenden, da zu schwachen, Beifall aus. Die konsequente Entschulung des Schreibens ermöglicht eine spontane inhaltliche Offenheit, über deren Ergebnisse die Schreibenden immer wieder selbst erstaunt sind. Es wurde nie daran gedacht, etwa als Gruppe ein Buch mit den Schreibergebnissen zu veröffentlichen, auch werden die hier entstandenen Texte nicht wissenschaftlich ausgewertet. Jeder nimmt seinen eigenen Text mit nach Hause.

Leitung als Begleitung beinhaltet durchaus, je nach Bedarf handwerkliche Instruktionen zu literarischen Formen und Techniken (z.B. die Struktur von Kurzgeschichten oder von Gedichten mit und ohne Endreim) beizusteuern: kein Spiel ohne Regeln. Aber auch keine Regel ohne gewollte individuelle Abweichungen. Da Unterforderung zumeist als Langeweile erlebt wird, gilt es immer wieder, Unerwartetes als Herausforderung zu formulieren. Wenn der Leiter erlebt, dass sich die Schreibideen, die er vorschlägt, nicht entfalten, kann er daraus für einen Neuversuch gestalterische Schlüsse ziehen.

Eigene Erfahrung als Schatzkammer

Die eigene Lebenswelt ist die Schatzkammer von Schreibideen. Im autobiografischen Schreiben kann man einen Zugang zu all den witzigen, traurigen und wütenden Geschichten im eigenen Leben gewinnen, die nur darauf warten, endlich einmal aufgeschrieben zu werden. Dabei fällt die literarische Aneignung der eigenen Kindheit beim autobiografischen Schreiben in zeitlichen Abständen immer wieder anders aus, bedingt durch die je aktuelle Lebenssituation der Schreibenden. Da pure Berichterstattung oft nicht so spannend ist, gilt es, mutig zu sein und sie fiktiv anzureichern, Schauplätze und Personen der eigenen Lebensgeschichte nicht nur anschaulich zu beschreiben, sondern sie mitunter auch gänzlich neu zu erfinden. Und zu lernen, Anekdoten mit Pointen zu versehen, wie es Billy Wilder gefordert hat: »Du sollst nicht langweilen!«

In den drei Schreibstunden einer Sitzung bleibt alles Fragment. Dadurch kommt keine Vollkommenheitserwartung auf. Es wird auch nichts vorgetragen, was zu Hause geschrieben wurde. Es gibt immer nur das zu hören, was in der Sitzung selbst entsteht. Da die entstehenden Texte nie bewertet werden, geht es in den Sitzungen nur um das fantasiereiche Spiel mit Wörtern. Es wird als Belohnung für das eigene Schreiben erlebt, dass die Zuhörer als Fachleute des Augenblicks aufmerksam lauschen und spontan emotional reagieren. Da die Texte nicht kollektiv gesammelt werden, gilt der hier bewusst erlebte Augenblick: Die Geschichten sind vorbei, wenn sie ausgedacht, niedergeschrieben und vorgelesen wurden. Das Vorlesen wird zum sozialen Ereignis, wenn ich mit dem eigenen Text in den sozialen Zwischenraum zwischen mir und den Zuhörern trete und dieser auf mich zurückwirkt.

Stoße ich neu dazu, lähmt mich mitunter die Sorge, dass ich mit meinem ersten Text einem (von mir fantasierten) literarischen Gruppen-Level nicht genügen könnte. Wenn ich dann aber schon beim ersten Vorlesen feststelle, dass mein Text von einzelnen Zuhörern oder der ganzen Gruppe goutiert wird, entsteht Vertrauen. Auch das Kind in mir, wenn der Spieltrieb aus seiner jahrzehntelangen Gefangenschaft gelockt wird, gilt es doch mit einem Mal, hanebüchene Geschichten zu erfinden und sich über jede neue verwegene Steigerung mit der Gruppe freuen zu können.

Ich habe einmal in der Eifel ein Wochenendseminar der Katholischen Erwachsenenbildung mit dem Titel »Kreatives Schreiben« gegeben. Eine Teilnehmerin brachte ihre italienische Schwiegermutter mit, die von Beruf Tankwartin war. Beim Eröffnungskaffeetrinken rührten beide nichts an. Von mir befragt, meinten sie, sie seien zu aufgeregt, weil sie ja noch nie »bei so was« mitgemacht hätten. Am Sonntagnachmittag versuchten wir uns abschließend im Ersinnen von Haikus, den aus Japan stammenden Kurzgedichten mit nur drei Zeilen: fünf Silben in der ersten Zeile, sieben in der zweiten und fünf Silben in der dritten Zeile. Das Thema lautete »Schreiben«. Die Tankwartin saß neben mir und schrieb ihre Texte mit großen Buchstaben auf Italienisch. Ich flüsterte ihr zu, sie möge neben ihren Texten die deutsche Übersetzung notieren und bat sie in der anschließenden Vorleserunde, als Erstes die italienischen, danach die deutschen Textvarianten vorzutragen. Das tat sie und kam so hinreißend an, dass die Gruppe sie bat, ihre Texte nicht nur ein zweites Mal vorzulesen, sondern auch ein drittes Mal, was schon unter Tränen geschah. Im Schluss-Feedback zum Seminar meinte sie zwischen Lachen und Weinen: »Ich wusste gar nicht, was ich alles kann!«

Erhard Meueler ist pensionierter Professor für Erwachsenbildung. Er lebt und arbeitet in einer Kleinstadt im Odenwald, Südhessen.

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