Wenn der Senat nicht assistiert

Probleme bei der persönlichen Hilfe für Behinderte durch fehlende Anerkennung des Tarifvertrags

Wieder einmal ist es fünf vor zwölf: Aktion von behinderten Menschen und Assistenten an der Berliner Weltzeituhr
Wieder einmal ist es fünf vor zwölf: Aktion von behinderten Menschen und Assistenten an der Berliner Weltzeituhr

Es kommt sicher selten vor, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber in allen Fragen zu 100 Prozent übereinstimmen. Doch genau das war am Montag zu erleben. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi informierte über das drohende Scheitern des in Berlin bestehenden Arbeitgeber*innenmodells in der Persönlichen Assistenz und gab dem Senat dafür die Verantwortung. Auch die Arbeitgeber*innenseite war zugegen und stimmte dieser Darstellung zu.

Menschen, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, haben in Berlin zwei Möglichkeiten, diese in Anspruch zu nehmen: Sie können entweder einen Assistenzdienst beauftragen oder selbstständig Personen anstellen. Dieses Modell ist in Gefahr, wenn der Senat den Tarifvertrag nicht mehr anerkennt, den Verdi mit der Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber*innen mit Persönlicher Assistenz (AAPA) abgeschlossen hat. Der AAPA war von den Assistenznehmer*innen gegründet worden, um einen konkurrenzfähigen Tarifvertrag zu ermöglichen. In der Zeit der früheren Sozialsenatorinnen Elke Breitenbach und später Katja Kipping (beide Linke) sei Kooperation mit der Senatsverwaltung positiv gelaufen, betonte Verdi-Landesfachbereichsleiterin Jana Seppelt. Doch mit der neuen schwarz-roten Koalition, die nach der Wiederholungswahl von 2023 ins Amt kam, habe sich das geändert.

»Das Personal für das Arbeitgeber*innen-Modell wird knapp, was wiederum die Arbeitsbedingungen der verbliebenen Beschäftigten verschlechtert.«

Lea Merslikia Assistentin

»Wir hatten den Eindruck, die andere Seite versteht gar nicht, was wir wollen«, berichtete Gewerkschaftssekretär Ivo Garbe über die Mitte Dezember mit Sozialstaatssekretär Aziz Bozkurt geführten Gespräche. Besonders empört hat Jana Seppelt und Ivo Garbe, dass Bozkurt ihnen erklärte, es sei kein Geld für die Refinanzierung des Tarifvertrags vorhanden. Wenige Tage später haben sie dann erfahren, dass Gelder vorhanden waren, aber nicht abgerufen wurden, sondern für andere Zwecke kurzfristig umgewidmet worden sind. Danach sei endgültig klar geworden, dass sich der Senat weigert, die Löhne entsprechend der letzten Tarifeinigung zwischen Verdi und AAPA analog des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst der Länder zu erhöhen oder eine Inflationsausgleichsprämie auszuzahlen.

Dadurch bekommen die Assistenzkräfte im Arbeitgeber*innen-Modell 340 Euro weniger als Beschäftigte bei Assistenzdiensten. Die Folgen bekommen die Betroffenen schon heute zu spüren. »Das Personal für das Arbeitgeber*innen-Modell wird knapp, was wiederum die Arbeitsbedingungen der verbliebenen Beschäftigten verschlechtert. Die Folgen sind Urlaubssperren und Überstunden«, beschreibt Lea Merslikia die prekäre Situation. Sie betreut seit Jahren behinderte Menschen und hielt nun ein engagiertes Plädoyer dafür, das Modell unbedingt zu erhalten. Jan Gerling empörte sich über die Umwidmung der Gelder durch die Senatsverwaltung: »Das sind unsere Gelder, die wurden uns einfach aus der Tasche gezogen.« Birgit Stampfl verwies auf Studien, die nachwiesen, das Arbeitgeber*innenmodell in der persönlichen Assistenz spare sogar Kosten. Vor allem aber spielt das Modell eine wichtige Rolle für ein selbstbestimmtes Leben der Behinderten. Das schilderten Christine Damaschke und Birgit Stenger sehr eindringlich. »Es ist ein wichtiger Schritt von der Fürsorge hin zu einem gleichberechtigten Umgang auf Augenhöhe«, sagte Stenger.

So wäre ein Aus des Arbeitgeber*innenmodells nicht nur ein Schlag ins Gesicht für die Menschen, die sich über Jahre bei Verdi für den Tarifvertrag eingesetzt haben, sondern auch ein Angriff auf hart erkämpfte Rechte von Menschen mit Behinderung, führen Damaschke und Stenger aus.

Am Ende blieb die Frage, wie sich die Betroffenen dagegen wehren können. »Die klassischen gewerkschaftlichen Mittel wie Arbeitsniederlegungen kommen hier nicht infrage, weil ja wir die Leidtragenden wären«, sagt Assistenznehmer Bastian Beeks. Die Betroffenen sind wütend auf den Senat.

Schon vor mehr als 20 Jahren diskutierten Assistent*innen in der Pflege, wie sie für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen können. Eine viel beachtete Aktion war damals der sogenannte Scheiß-Dreck: Exkremente in Röhrchen wurden an die Behörden geschickt, die für die schlechten Arbeitsverhältnisse Verantwortung trugen.

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