- Wirtschaft und Umwelt
- Armut und Gesundheit
Wider das Gesundheitsbingo
Chancen auf ein gesundes Leben sind ungleich verteilt. Das zeigt der Kongress »Armut und Gesundheit«
Draußen die Märzkälte, drinnen, beim Kongress »Armut und Gesundheit« im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin, taut am Montagmorgen die innere Vereisung langsam auf. Spätestens als die Neurowissenschaftlerin Maren Urner in ihrem Eröffnungsvortrag keinen kapitalistischen Stein auf dem anderen lässt, sind alle warm. »Die Erzählung von der Ellenbogengesellschaft ist falsch, und zwar biologisch falsch«, sagt die 41-Jährige. Es ist eine der Kernthesen ihres Buches »Radikal emotional«, in dem sie wissenschaftlich zu begründen versucht, dass Emotionalität und Verbundenheit die Menschen lebendig halten, während das Versteifen auf vermeintliche Trennungen letztlich ihren Tod bedeute.
Was trennt uns? Renate Antonie Krause vom Koordinationskreis der Nationalen Armutskonferenz drückt es so aus: »Was ein selbstbestimmtes Leben ausmacht, ist für Rentner*innen in Grundsicherung und Bürgergeldbezieher*innen niemals möglich.« 563 Euro im Monat sind der Betrag, mit dem 19,6 Prozent der Rentner*innen in diesem Land auskommen müssten. Jede*r Fünfte. Dazu die 5,4 Millionen Menschen im Bürgergeldbezug, gleiche Zahl – 563 Euro im Monat. »Wenn ich krank bin, stehe ich vor der Frage: Kaufe ich mir Medizin oder Essen?«, beschreibt Krause die Lebenswirklichkeit dieses Bevölkerungsteils. Sie sagt: »Hier läuft etwas nicht in demokratischen Linien.«
»Wenn ich krank bin, stehe ich vor der Frage: Kaufe ich mir Medizin oder Essen?«
Renate Antonie Krause
Nationale Armutskonferenz
Auch wenn diese einkommensarmen Rentner*innen in sogenannten Leichtlohngruppen gearbeitet und dadurch nur sehr wenig Einkommensteuer gezahlt haben, hätten sie mit der Mehrwertsteuer dennoch zum Gelingen dieses Staates beigetragen, führt Krause weiter aus. Und verweist darauf, dass der Anteil dieser Steuer 2023 38,9 Prozent am Gesamtsteueraufkommen betrug.
»Und diese 563 Euro im Monat sollen dann der Betrag sein, mit dem wir eine Lebensleistung honorieren?«, fragt sie. Sie wünsche sich, dass jemand mit der Faust auf den Tisch schlage und diese Ungleichheit abschaffe, mindestens aber für ein gutes Auskommen im Alter sorge. Laut Berechnungen von Marcel Fratzscher, Ökonom des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, seien 1200 bis 1400 Euro monatliche Grundsicherung im Alter problemlos finanzierbar, so Krause.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Sie empfiehlt jedem, der sich zu diesem Thema mehr informieren wolle, zum Beispiel das sogenannte Bürgergeldbingo im Internet zu spielen. Damit können Interessierte ausprobieren, was es heißt, mit dem Bürgergeldsatz auszukommen. Vor allem Menschen mit der »Lebenskarriere der drei Säle« – Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal – wüssten nichts darüber.
Auf dem Podium sitzt auch Jens Hoebel vom Robert-Koch-Institut (RKI). Er sagt, verbessert habe sich in den letzten 30 Jahren, seit es den Kongress nun gibt, allein die Datenlage zur gesundheitlichen Ungleichheit. Das sei ein Erfolg. Die gesundheitliche Ungleichheit selbst sei aber weiter gewachsen. »Die Chancengerechtigkeit gehört mehr denn je auf die politische Agenda«, fordert Hoebel.
Mit dem RKI verbunden ist das neue, erst vor vier Wochen gegründete Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit. Dessen Sprecher Christoph Aluttis versucht auf dem Podium darzulegen, wie das neue Institut »Knotenpunkt« zwischen den verschiedenen Gesundheitsbereichen werden will. »Das Institut wird dabei einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen«, so Aluttis. Gemeint ist damit die Strategie des »Health in all policies«, also Gesundheit als Faktor und Gradmesser für alle politischen Bereiche.
Dieses Konzept erläutert der langjährige Kongress-Mitorganisator Rolf Rosenbrock: »Wie man bestimmte oder die meisten Gesetze ja mittlerweile auf ihre Klimatauglichkeit überprüft, müsste auch jedes Gesetz auf seine Gesundheitstauglichkeit überprüft werden.« Dass es allen Menschen gut geht, sei eben nicht nur eine Frage des Gesundheitsressorts, sondern genauso des Arbeits-, des Familien- oder des Bildungsministeriums.
Wie weit die Realität von diesem Ansatz noch entfernt ist, zeigt dann wieder die Neurowissenschaftlerin Urner auf. Sie zitiert die scheidende Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die einmal formulierte: »Einfach mal sagen, was einem durch den Kopf geht, geht als Außenministerin nicht. Am schwierigsten ist es, wenn das Herz etwas anderes will, als der Kopf sagt.« Dabei gebe es schlicht keine Trennung zwischen Emotionalität und Rationalität, wie Baerbock es hier suggeriere, so Urner. Genauso wenig, wie es eine Trennung zwischen Privatem und Politischem gebe. »Es passiert nichts in uns Menschen ohne Emotionalität. Wer diese vom Denken trennen will, liegt falsch«, begründet Urner.
Das gelte ebenso für jene, die die Ellbogen-Mentalität wirtschaftlich begründen. »Es ist zum Beispiel die reinste Absurdität, Wirtschaft einerseits und Klima als Lebensgrundlage von allem andererseits getrennt voneinander zu denken«, so Urner. Jene Themen im Gegenteil zusammen zu denken, dafür spricht auch das Motto des diesjährigen Kongresses: »Gesundheit fördern heißt, Demokratie fördern«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.