Neukölln: Rechte Gewalt in Behörden und im Kiez

Erster Bericht zu Rechtsextremismus vom Bezirk Neukölln veröffentlicht – mit Fokus auf Neukölln-Komplex

In Nord-Neukölln seien laut des Vereins »Outreach« kürzlich kopftuchtragende Frauen auf der Straße bespuckt worden.
In Nord-Neukölln seien laut des Vereins »Outreach« kürzlich kopftuchtragende Frauen auf der Straße bespuckt worden.

2017 richtete der Staatsschutz des Berliner Landeskriminalamts (LKA) eine eigene Ermittlungsgruppe zu rechtsextremen Straftaten im Bezirk Neukölln ein, um die Polizeiarbeit im Kiez zu ergänzen. Damals hatte das LKA bereits Hinweise auf einen Anschlag gegen den heutigen Bundestagsabgeordneten Ferat Koçak (Linke) erhalten, der ein Jahr später Opfer eines Brandanschlags wurde. Dieser Anschlag wird dem sogenannten Neukölln-Komplex zugerechnet – einer Reihe rechtsextremer Anschläge im Bezirk. Bereits 2017 beschloss die Bezirksverordnetenversammlung, das Bezirksamt solle jährlich einen Bericht zum Rechtsextremismus veröffentlichen.

Acht Jahre später liegt der Bericht das erste Mal für das Jahr 2023 vor. Am Mittwoch stellt Jugendstadträtin Sarah Nagel (Linke) ihn vor – gemeinsam mit dem Kriminologen Max Laube, der von rechter Gewalt Betroffenen Claudia von Gélieu sowie Vertretern von Beratungs- und Recherchestellen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Der Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel, der darauffolgende Gaza-Krieg und Wahlerfolge der AfD prägten das Jahr 2023 in Neukölln, sagt Stadträtin Nagel, die darauf verweist, dass es keine Stelle im Bezirksamt gebe, um einen jährlichen Bericht zu Rechtsextremismus zu verfassen. Darum habe es auch so lange gedauert.

Im Neukölln-Komplex zeige sich laut Kriminologe Laube nicht nur ein Polizeiskandal, sondern auch ein »massiver Justizskandal«. Laube verweist auf Oberstaatsanwalt Matthias Fenner, dessen mögliche Befangenheit derzeit Thema im Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex ist. Fenner war ab 2016 Abteilungsleiter Staatsschutz bei der Staatsanwaltschaft und bis 2020 zuständig für den Neukölln-Komplex. Die Zuständigkeit wurde ihm entzogen, weil ein Neonazi nach seiner Vernehmung durch Fenner in seinen Kreisen verlauten ließ, von diesem Staatsanwalt sei nichts zu befürchten, weil Fenner der AfD nahestehe.

Teil des Berichts zu Rechtsextremismus sind auch Zahlen des »Kriminalpolizeilichen Meldedienstes in Fällen politisch motivierter Kriminalität«. Nach denen sei seit 2021 insgesamt ein »stetiger, quantitativer Zuwachs der Fallzahlen rechtsextremer Straftaten zu verzeichnen«, heißt es im Bericht. Laube merkt dazu an, dass die Statistik nur die polizeiliche Arbeit abbilde. Soll heißen: Opfer rechter Gewalt seien meist Geflüchtete oder Wohnungslose, die häufig keine Anzeige erstatten. Außerdem hätten Beamte eine gewisse »Deutungshoheit« zu politisch motivierter Kriminalität und gewisse Vorstellungen davon, wer Opfer und wer Täter sei.

»Der Untersuchungsausschuss zeigt ganz klar das Versagen der Behörden.«

Claudia von Gélieu 
Opfer eines rechten Brandanschlags 2017

Für den Bericht zu Rechtsextremismus in Neukölln kommen weitere Zahlen, unter anderem von der Registerstelle Neukölln. Diese hat 2023 doppelt so viele Vorfälle gezählt (400) wie im Jahr zuvor. Am häufigsten waren Propagandadelikte wie das Zeigen des Hitlergrußes (59 Prozent), gefolgt von Beleidigungen und Pöbeleien (16 Prozent) und Angriffen (9 Prozent). Bei den Angriffen sei das Hauptmotiv Queerfeindlichkeit gewesen, heißt es. Die Hälfte aller dokumentierten Bedrohungen und Beleidigungen waren rassistisch motiviert. Von 106 antisemitisch motivierten Vorfällen wurden 84 zwischen Oktober und Dezember 2023 dokumentiert. »Zumeist handelte es sich um Propaganda, Sachbeschädigungen und Veranstaltungen«, heißt es im Bericht.

Ein Vertreter von »Outreach«, einer Beratungsstelle für Opfer rassistischer Gewalt, zeigte sich sehr besorgt über neue Entwicklungen im Kiez. So meldeten sich in den vergangenen Monaten in der Beratungsstelle kopftuchtragende Frauen, die in Nord-Neukölln auf offener Straße bespuckt wurden, ein schwarzer Mann, der von der Polizei aus der U-Bahn gezogen und bedroht wurde, sowie muslimische Schüler*innen, die auf dem Weg zum Unterricht von Beamten angehalten wurden und sich eingeschüchtert fühlten.

Claudia von Gélieu, die 2017 Opfer eines Brandanschlags des Neukölln-Komplexes wurde, verteilt am Mittwoch Flyer für die Kundgebung zum Internationalen Tag gegen Rassismus. Erst kürzlich wurde ihr dabei der Hitlergruß gezeigt. Dass Sicherheitsbehörden davon sprechen, sie hätten rechte Strukturen im Stadtteil gestoppt, nennt von Gélieu ein »Armutszeugnis«. Der Untersuchungsausschuss zeige ihrer Meinung nach ganz klar das Versagen der Behörden, dass nichts aufgearbeitet sei und dass das Parlament nicht in der Lage sei, wirkliche Kontrolle auszuüben. Im Untersuchungsausschuss sei gesagt worden, bei der Neuköllner Polizei arbeite in der Ermittlungsgruppe zu rechten Straftaten derzeit nur eine Person. Nach Claudia von Gélieu müsste diese Abteilung jedoch Priorität haben.

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