- Politik
- Umstrittene Polizeiwaffe
Schallkanone bei Protest in Belgrad?
Polizei setzte Technologie angeblich schon gegen Geflüchtete ein
Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen belegen einen mysteriösen Vorfall während der Massenproteste in Belgrad am Samstag: Um 19.11 Uhr, während einer Schweigeminute für die 15 Toten nach dem Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad, teilte sich die Menschenmenge plötzlich, Hunderte Menschen machten in Panik die Straße frei. Die Ursache könnte der Einsatz einer sogenannten Schallkanone gewesen sein. Die oppositionelle Politikerin Marinika Tepić präsentierte auf einer Pressekonferenz ältere Fotos, die eine solche »nicht tödliche Waffe« auf einem Polizeifahrzeug zeigen. Zudem wurden Dokumente bekannt, wonach das serbische Innenministerium sieben Schallgeräte des Typs LRAD 450 XL erworben haben soll.
Von Militär und Polizei zur Kontrolle von Menschenmengen genutzte Schallwaffen können extrem laute Töne erzeugen – bis zu 150 oder 160 Dezibel, deutlich lauter als ein Düsenjet und damit über der menschlichen Schmerzgrenze. Der Einsatz kann dauerhafte Hörschäden wie Schwerhörigkeit oder Tinnitus nach sich ziehen. Wegen der reflexartigen Reaktion, sich die Ohren zuzuhalten, werden solche Waffen auch »akustische Handschellen« genannt.
Allerdings ist ein solches Ohren-Zuhalten auf den Videos aus Belgrad nicht zu sehen. Das Portal netzpolitik.org zweifelt deshalb an der Schallwaffen-Theorie und verweist auf teilweise widersprüchliche Augenzeugenberichte. Alternativ könnte eine Luft- oder Wirbelkanone oder auch eine Mikrowellenwaffe zum Einsatz gekommen sein – oder eine Kombination aus diesen Techniken.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Am Mittwoch berichtete das in Belgrad ansässige Balkan Insight Research Network, dass die serbische Polizei die umstrittene Technologie bereits 2023 zur Migrationsabwehr eingesetzt hat. Am 7. November 2023 seien demnach 35 Migrant*innen, darunter auch Kinder, in Panik durch Felder nahe Sombor gerannt, nachdem sie ein »lautes, provokantes Geräusch« gehört hätten. Dokumentiert hatte dies das migrationssolidarische Netzwerk Border Violence Monitoring. Die Polizeiaktion soll sich gegen »Schmuggelbanden« gerichtet haben; neben regulären Polizeikräften seien daran auch Spezialeinheiten wie die Anti-Terror-Einheit SAJ beteiligt gewesen.
Die Regierung unter Präsident Aleksandar Vučić, die seit dem Unglück in Novi Sad ohnehin unter Druck steht, leugnete jeglichen Einsatz von Schallwaffen zunächst. Inzwischen gibt Innenminister Ivica Dačić zu, dass die Polizei zwar mit einem solchen Gerät vor Ort war, beteuert jedoch: »Die serbische Polizei hat niemals, auch nicht am 15. März, ein illegales, unzulässiges Gerät eingesetzt.« Gegenüber der Tageszeitung »Danas« sagte Dačić, dass es auch kein Gesetz für die Verwendung der Technologie gebe.
Der Oppositionspolitiker Dragan Đilas hat eine Strafanzeige gegen Präsident Vučić und seine Partei SNS wegen Terrorismus gestellt. Die Studierendenbewegung fordert eine unabhängige internationale Untersuchung durch die Vereinten Nationen, den Europarat und die OSZE. Eine entsprechende Petition hat bereits über 590 000 Unterschriften gesammelt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.