Petra Pau: »Ich kann jetzt fröhlich loslassen«

Was bleibt von einem langen Abgeordnetenleben? Ein Vorruhestandsbesuch bei Petra Pau und Matthias W. Birkwald

Behält noch ein Büro im Bundestag und kann dort abtrainieren: Vizepräsidentin a. D. Petra Pau
Behält noch ein Büro im Bundestag und kann dort abtrainieren: Vizepräsidentin a. D. Petra Pau

In Petra Paus Bundestagsbüro sieht es etwas unaufgeräumt aus. Kisten stehen herum, nach Themen beschriftet, das große Bücherregal ist halb leer. 19 Jahre lang war sie Vizepräsidentin des Parlaments, mit entsprechend repräsentativen Arbeitsräumen. Bei der jüngsten Wahl hat die Linke-Politikerin nicht mehr kandidiert, das stand schon länger fest. Nun zieht sie um in ein kleineres Büro, als Vizepräsidentin a.D., für maximal vier Jahre. Es gibt ja noch allerhand Anfragen und Verpflichtungen.

Eben war ein Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung da, der sich um den Verbleib der imposanten Grünpflanzen kümmern soll. Als Pau im Frühjahr 2006 zum ersten Mal ins Präsidium gewählt wurde, fand sie das große Büro etwas trist und fragte nach Pflanzen. Da könne sie sich etwas aussuchen, hieß es aus der Verwaltung, und nun stehen da ein paar beeindruckende Kakteen. Was sie selbst mitbrachte, darüber kann sie verfügen; nach welchen Kriterien entschieden werden soll, wo die bundeseigenen Gewächse künftig der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dienen, dazu werde gerade eine Vorlage erarbeitet.

Zwei Etagen weiter unten im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin-Mitte sitzt Matthias W. Birkwald in einem weitgehend leeren Zimmer. Was sein Büro war, bekommt einen neuen Bewohner. Außer Schreibtisch, Aktenschrank, Fernseher und einem Kasten Mineralwasser ist nichts mehr übrig. Birkwald hat die Einrichtungsgegenstände, die nicht dem Bundestag gehören, weggegeben, verschrottet, verschenkt. Zwei große Fotografien von Lothar Bisky, dem langjährigen PDS- und Linke-Vorsitzenden, hat er mit nach Hause genommen, nach Köln. Bisky, dessen Mitarbeiter er einige Jahre im Bundestag war, ist für ihn so etwas wie ein politischer Ziehvater.

Pau, Jahrgang 1963, und Birkwald, Jahrgang 1961, waren lange Mitglieder des Bundestags; sie seit 1998, er seit 2009. Vor seiner Zeit als Abgeordneter war Birkwald schon seit Mitte der 90er Mitarbeiter der PDS im Bundestag. Beide gehören zur vergleichsweise großen Gruppe jener Linke-Abgeordneten, die sich nach vielen Jahren aus dem Parlament verabschieden. Nach der Wagenknecht-Abspaltung im Herbst 2023 blieb eine Gruppe von 28 Linke-Abgeordneten; etwa die Hälfte stellte sich jetzt nicht mehr zur Wahl. Da geht jede Menge Erfahrung in den Ruhestand.

Die Bundestagsgeschichte von Petra Pau ist mit denkwürdigen Ereignissen verbunden. Als sie 1998 sensationell den prestigeträchtigen Wahlkreis in Berlin-Prenzlauer Berg gegen allerhand Prominenz, vor allem gegen den Sozialdemokraten Wolfgang Thierse gewann, erlangte die PDS erstmals Fraktionsstatus. Vier Jahre später flog die Partei wieder raus – bis auf Pau und Gesine Lötzsch, die ihre Wahlkreise im Osten Berlins gewonnen hatten. In Paus Büro steht bis heute jener kleine Rollkoffer, aus dem sich ein winziger Arbeitstisch ausklappen lässt. Die Bilder, wie Pau und Lötzsch in den hinteren Reihen des Plenarsaals an diesem Behelfsmöbel sitzen – ein ständiger Protest gegen ihre eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten –, wurden legendär. Später begleitete der Koffer sie bei Lesereisen mit einem ihrer Bücher.

2005 kehrten die Genossen triumphal in den Bundestag zurück. Die Linke war in Gründung; die vor allem im Osten beheimatete PDS und die im Westen entstandene Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit hatten gemeinsam Wahlkampf gemacht. Einer der Väter des Erfolgs war Lothar Bisky, bis heute eine Bezugsperson für viele in der Partei. Birkwald wurde sein Mitarbeiter. Fragt man ihn, was er vom damaligen Chef gelernt hat, sagt er: »Vertrauen und lange Leine.« Und illustriert das mit einer Geschichte: Als Bisky einmal auf Auslandsreise war, schickte Birkwald in seinem Namen eine Presserklärung raus, weil er die Sache für dringlich hielt. Nach der Rückkehr sagte Bisky zu ihm: »Väterchen« – so nannte er den deutlich Jüngeren, wenn es mal was zu kritisieren gab – »in der Erklärung stand das Gegenteil dessen, was meine Position ist. Immerhin war ich damit in der Lokalpresse. Aber für das nächste Mal kennst du jetzt meine Haltung.« Diese Art von Kritik, sagt Birkwald, sei ihm weder vorher noch nachher bei einem Vorgesetzten begegnet. Von Bisky stammt auch ein Rat, dem er seither folgt: »Zwischen der Politik und deinem Herzen solltest du immer wenigstens fünf Zentimeter Abstand halten.«

Lautsprecher und Zwischenrufer: Matthias W. Birkwald ist als Rentenexperte parteiübergreifend anerkannt.
Lautsprecher und Zwischenrufer: Matthias W. Birkwald ist als Rentenexperte parteiübergreifend anerkannt.

Denn Politik kann ein Knochenjob sein und ist zuweilen gnadenlos. Bisky hat das zu spüren bekommen, als seine Fraktion ihn nach der Wahl 2005 als Vizepräsidenten des Bundestags nominierte. Eine Mehrheit ließ ihn viermal durchfallen. Ein nie dagewesener Vorgang. Die Linke ließ den Posten, der ihr zustand, aus Protest monatelang unbesetzt; schließlich bat Bisky Petra Pau, sich zu bewerben. »Ich habe damals gesagt: Ich kandidiere nur einmal«, erzählt Pau. Sie wurde gewählt.

Begegnete man ihr im Bundestagspräsidium nach der Bisky-Vorgeschichte mit Vorbehalten? Nein, sagt sie, vor allem Parlamentspräsident Norbert Lammert von der CDU verhielt sich »absolut fair«. Zeitweise war sie die einzige Ostdeutsche in dem Gremium. Ein erfahrener FDP-Kollege riet ihr damals, streng überparteilich zu bleiben, wenn sie Parlamentssitzungen leitet, und hart in der Sache, aber nie verletzend, wenn sie für ihre Fraktion spricht. Daran hat sie sich gehalten, auch als sie Obfrau der Linken in den NSU-Untersuchungsausschüssen war. Rechtsextremismus, Antisemitismus, Gedenkkultur, das sind wichtige Themen für Pau. Ihr ist es zu verdanken, dass der Bundestag seit Langem bei den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen vertreten ist. Jedes Jahr besucht sie die Gedenkstätte.

Damit macht man sich Feinde im rechtsextremen Lager. Sicherheitsvorkehrungen sind notwendig, Morddrohungen keine Seltenheit. Anzeigen zu erstatten ist eine Dauerbeschäftigung. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag ist die Atmosphäre deutlich aggressiver geworden. »Da standen wir plötzlich Mitarbeitern dieser Fraktion gegenüber, die wir von Nazidemonstrationen kannten«, sagt Pau. Sie hat erlebt, dass Beschimpfungen in Videos, die im AfD-Umfeld kursieren, Attacken auf der Straße nach sich ziehen können. Unlängst erzählte Pau in einem Interview, dass sie sich in Bundestagsgebäuden nicht mehr ohne Begleitung bewegt, seit sie auf den Fluren übergriffige Begegnungen mit AfD-Mitarbeitern und -Besuchern hatte.

Auch in Plenarsitzungen setzt die AfD auf Aggressivität und Grenzüberschreitung. »Die provozieren und sammeln regelrecht Ordnungsrufe für ihre Agitation«, sagt Pau. Einmal, als der Linke-Rentenexperte Birkwald zu nächtlicher Stunde vorschlug, eine von ihm beantragte Debatte wegzulassen und die Reden zu Protokoll zu geben, beschwerte sich der Geschäftsführer der AfD bei der Sitzungsleiterin Pau. »Ich brauche das Video«, sagte der Mann. Denn das ist ein Geschäftsmodell der Rechtsaußenpartei: im Plenum Brandreden zu halten und Videos davon im Netz zu verbreiten.

Die AfD trägt übrigens eine Mitschuld daran, dass Birkwald eine Spezialdisziplin aufgegeben hat. Er war mal einer der aktivsten Zwischenrufer im Plenarsaal, »aber ich möchte nicht immer im Kontext mit Leuten wie Brandner stehen«. Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner ist einer der unangenehmsten und penetrantesten Zwischenrufer von rechts außen. Hinzu kam ein ganz pragmatischer Grund für Birkwalds Zurückhaltung. Wegen der Wagenknecht-Abspaltung verlor Die Linke nicht nur den Fraktionsstatus, sondern auch die Plätze in den vorderen Sitzreihen. Von weiter hinten aber kann man sich kaum verständlich machen; schon gar nicht können die Stenografen für das Protokoll zuordnen, wer wann was gerufen hat.

Das ist schade, denn Birkwald hat bei seinen Themen Rente und Soziales immer etwas zu sagen, auch in kurzen Bonmots. Längst ist er ein weithin anerkannter Experte. Mitte der 90er Jahre machte er gemeinsam mit Horst Kahrs – damals beide Mitarbeiter der PDS im Bundestag – erstmals den gesetzlichen Mindestlohn zum Thema. Das war damals selbst bei den Sozialisten eine absolute Minderheitenposition; die Mehrheit meinte, Lohngestaltung sei Sache der Tarifpartner. In der PDS mussten also zunächst die gleichen Vorbehalte ausgeräumt werden wie später bei Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. »Das kostete ein paar Jahre Überzeugungsarbeit«, sagt Birkwald, der sich und Kahrs als die »Väter des gesetzlichen Mindestlohns« bezeichnet. Dass heute große Gewerkschaften und alle wichtigen Sozialverbände ein Rentenniveau von 53 Prozent fordern, hat auch mit der Hartnäckigkeit Birkwalds zu tun. Und, sagt er, »ohne diese Forderung hätte die SPD das Rentenniveau nie bei wenigstens 48 Prozent stabilisiert«.

Der Kalender von Petra Pau ist weit über den Neustart im Bundestag gut gefüllt; bis zum Jahresende hat sie schon Termine. Als bekannt wurde, dass sie nicht wieder kandidiert, bekam sie Anrufe von Leuten, die sie langfristig eingeladen hatten: »Aber Sie kommen doch trotzdem?« Ja, sie kommt, nächste Woche beispielsweise zu einer Konferenz über Antisemitismus in Karlsruhe. Wie viel Zeit für den Kleingarten bleibt, den sie und ihr Mann jetzt gepachtet haben, wird sich zeigen. In ihrem neuen, kleineren Vizepräsidentin-a.D.-Büro, in der Nachbarschaft von Linke-Abgeordneten, kann sie, wie sie sagt, gelassen abtrainieren. »Mit dem Wahlergebnis der Linken vom Februar kann ich fröhlich loslassen und in den Ruhestand gehen.«

Matthias W. Birkwald wird keine Funktionen mehr ausüben. »Ich privatisiere«, sagt er und will sich wieder mehr um den Freundeskreis kümmern. Wenn jemand seinen Rat sucht, wird er sich nicht verweigern. In der Zeit zwischen der Bundestagswahl und der Konstituierung des neuen Parlaments kümmerte er sich ein wenig um Lea Reisner, eine 36-jährige Krankenpflegerin und Seenotretterin, die wie er aus Köln stammt und über die nordrhein-westfälische Landesliste der Linken gewählt wurde. 1994, als Birkwald den NRW-Bundestagswahlkampf der PDS leitete, holte die Partei dort etwas mehr als 100 000 Stimmen. Bei der jüngsten Bundestagswahl waren es im bevölkerungsreichsten Bundesland 877 000. »Das Milliönchen Stimmen«, von dem Gysi bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 für die PDS im Westen träumte, kam also zuletzt fast schon an Rhein und Ruhr zusammen.

Birkwald hat Reisner die ersten Schritte in Berlin etwas leichter gemacht. Sie ist sozusagen seine Nachfolgerin; in Köln übernimmt sie sein Wahlkreisbüro. Falls es dort mal Fragen gibt – Birkwald wohnt ein paar Minuten Fußweg entfernt. Er hat ja jetzt Zeit und kann bei Bedarf mal rüberkommen.

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