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Menschliche Abgründe
Martin Cüppers gab den Stroop-Bericht vom Aufstand im Warschauer Ghetto neu heraus
Wie häufig wurde und wird auch heute noch diese Legende verbreitet, Juden hätten sich nicht oder zu wenig gewehrt, sie hätten sich wie Schafe in ihre Vernichtung treiben lassen. Diese Neuedition räumt mit Märchen, Geschichtsfälschung, Indoktrinierung und Selbst-Entschuldung auf. Denn der Herausgeber Martin Cüppers, wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg zur NS-Verbrechensgeschichte, hat eine aufwendige und reich illustrierte Edition zum Aufstand im Warschauer Ghetto veröffentlicht. Herausgekommen ist eine Edition, die den Tätern die Sicht von Opfern und Überlebenden entgegenstellt.
»Jüdische Jugend, glaubt den Verführern nicht!« lautete ein flammender Appell am 1. Januar 1942, mehr als ein Jahr vor den Warschauer Ereignissen. »Lassen wir uns nicht abschlachten wie Schafe! … Ja, wir sind schwach und hilflos, aber die einzige Antwort an unsere Feinde lautet – Widerstand!« Diesen Aufruf verfasste eine jüdische Widerstandsgruppe im Wilnaer Ghetto. Es existierte vom 6. September 1941 bis zum 25. September 1943. Bei Kriegsende lebten von 60 000 Juden noch 3000.
Das Warschauer Ghetto als größtes Sammellager wurde Mitte 1940 errichtet. Der mutige wie verzweifelte Aufstand der Juden dort begann am 19. April 1943, endete am 16. Mai 1943 und ging im Inferno unter. Der von Cüppers sorgsam edierte Report dokumentiert die Ereignisse aus Sicht der Nazis; es ist der Rechenschaftsbericht an Vorgesetzte wie Heinrich Himmler. Jürgen Stroop war der Einsatzleiter in Warschau, SS- und Polizeiführer. Im März 1952 wurde er in Warschau hingerichtet.
Auf 20 Seiten ist der Abschlussbericht von Stroop im Faksimile abgebildet, auf den folgenden 56 Seiten sind die Fernschreiben, die »Täglichen Meldungen« des Massenmörders vom 20. April bis zum 24. Mai 1943 faksimiliert wiedergegeben. Die Propagandasprache der Täter ist im Originalton zu vernehmen: »die an sich feigen Juden« werden verhöhnt, »mutig« hingegen seien »die Männer der Waffen-SS oder der Polizei«, die »in treuer Waffenbrüderschaft zahlreiche Juden, die nicht gezählt werden konnten, … durch Sprengungen erledigt« hätten. Danach folgen 50 Seiten mit den Propagandafotos aus der Perspektive von Tätern.
Auf Seite 170 findet sich ein Foto von drei nebeneinanderstehenden Frauen. Die Blicke geradeaus, die Arme unter den Mänteln lässig an der Seite, Schiebermützen auf dem Kopf, die Lippen fest geschlossen. Unter dieses Foto hat ein Nazi in altdeutscher Schönschrift gestanzt geschrieben: »Mit Waffen gefangene Weiber der Haluzzenbewegung«. Der Herausgeber fügt kommentierende Zeilen hinzu. Als Halutzim bezeichneten die Nazis zionistischen Pioniere. Die drei Frauen seien Kämpferinnen der Jüdischen Kampforganisation: Rachela Wyszogrodzka , Bluma Wyszogrodzka und Małka Zdrojewicz. Bluma Wyszogrodzka sei unmittelbar nach der Aufnahme erschossen worden, ihre Schwester Rachela wurde später in Auschwitz ermordet. Małka Zdrojewicz überlebte als Einzige der drei. Von ihr stammt die Aufklärung zu diesem Foto.
Foto für Foto wird in den historischen Zusammenhang gestellt. Die Rückenansichten zweier nackter Männer sind zu sehen: »Abschaum der Menschheit« steht in Nazi-Fraktur darunter. Der Kommentar des Herausgebers: Tausende mussten sich bei Kontrollen durch SS und Polizei entkleiden, auch ein Akt der Schikane und Entwürdigung.
Dann das ikonische Foto vom Jungen mit erhobenen Händen und dem Gelben Stern an der Kleidung, das wohl jeder historisch Interessierte kennt: »Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt« lautet die Bildunterschrift hier. Verschiedene Menschen auf dem Foto können heute benannt werden, der kleine Junge aber ist namenlos geblieben. Und dann das Trümmerfoto mit den vielen Leichen: »Im Kampf vernichtete Banditen« heißt es hier. Liest man danach den Kommentar des Herausgebers, zerreißt es einem das Herz. Auch das Foto von der Familie auf dem Weg zum »Umschlagplatz«, wie die Sammelstelle zur Deportation in ein Vernichtungslager von den Nazis euphemistisch genannt wurde. Schwer erträglich sind diese Fotos, ist dieser eiskalte Bericht eines Massenmörders. Solche Dokumentationen sind aber wichtig. Sie erinnern an grausiges Geschehen und mahnen. Man blickt in Abgründe und sollte belehrt sein: »Nie wieder!«
Martin Cüppers (Hg.): Ghetto Warschau. Aufstand und Vernichtung im Stroop-Bericht. Neuedition mit Zusatzdokumenten. Metropol, 280 S., geb., 29,90 €.
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