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»Lust«: Ausbüxen, fortgehen, reisen
In seinem neuen Buch »Lust« erzählt der norwegische Erfolgsautor Tomas Espedal, wie er zum Schriftsteller wurde
»Ich kam an einem Sonntag zur Welt, am Sonntag, den zwölften November, neunzehnhunderteinundsechzig, im Haukeland-Krankenhaus in Bergen.« So ist es, genau so. Die Angaben stimmen, alle. Ist »Lust« die Autobiografie von Tomas Espedal? Die Gattungsbezeichnung lautet Roman.
Der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal experimentiert mit dieser Balance, an den Grenzen von Roman und Autobiografie entlangzuschreiben. Was ist wahr? Was ist erfunden? Welche Erfindung macht die Wahrheit eindeutiger? Welche Wahrheit erscheint so unwahrscheinlich wie eine Erfindung? »Sag es, wie es ist!«, schwor er sich vor seinem ersten Roman, heißt es in »Lust«. Und: »Er konnte nicht sehen, bevor er sich beibrachte zu schreiben.«
Espedal gilt als Meister des autobiografischen Romans, er ist ein sensibler Sprachvirtuose und ein Bruder im Geiste seines Freundes Karl Ove Knausgård. Seit 2011 lässt der Verlag Matthes & Seitz Espedals Bücher ins Deutsche übersetzen; sie sind so etwas wie Fortsetzungsromane. Auf zehn Bände war sein »autobiografisches Erzählprojekt« angelegt, 2021 erschien der letzte Band auf Deutsch: »Lieben«, ein Roman über das Sterben. Da war Espedal 60.
Würde Espedal fortan schweigen und ins Verstummen verschwinden? Er schien ja an ein Ende gekommen zu sein. Aber ein Schriftsteller macht weiter. Hier nun also, in seinem achten Buch (in deutscher Übersetzung), die Verbindung von »Autobiografie und Bildungsroman zu einer Reise durch vierzig Jahre des eigenen Schreibens«. So hat es der Verlag auf den Buchrücken geschrieben.
»Man erdichtet in hohem Maß seine Erinnerung und Vergangenheit, und so muss es sein«, schreibt Espedal im ersten Drittel, »man erschafft sich die Vergangenheit, die man braucht, um zu erklären, wer man geworden ist und warum.« Um sich selbst womöglich zu beweisen, trotz aller Irrwege, Abstürze, Niederlagen. »Er wollte das nicht«, heißt es einmal. Gemeint sind Eigenheim und Glück allein, Familienleben plus Wochenendhaus und Auto: all die Dinge, für die man geregelt arbeiten muss, eingefangen in einer Gesellschaft, die sich in sich selbst erschöpft – das also nicht! Was dann? Freiheit, die Suche nach einem freien Leben. Schwer genug und gefährdet obendrein, Absturz und Scheitern inbegriffen. Aber auf keinen Fall das Leben der meisten nachäffen. Also ausbüxen, fortgehen, reisen. Auf der Flucht vor der dominanten, der übergriffigen Mutter, auf der Flucht vor und aus Bergen, seiner Heimatstadt, dieser »Bastion der Bürgerlichkeit«.
Er ordnet seine Existenz in Schlüsselerlebnisse. Musik als Erweckung; die Stadt Venedig, das Kino; Marcel Proust, zwölf Bände; der Militärdienst; Arthur Rimbaud, später Baudelaire; Frankreich, Paris, Wandern und Schlafen in der Natur; Alkohol, der ihn für die Kreativität öffnet: »schreiben und trinken, das wirkte natürlich«. Und dann Baudelaire, der »weicher als Rimbaud« sei, aber auch »streng, rhythmisch, lyrisch, eine poetische Prosa«, das war es, wonach er strebte.
»Wir sterben mehrmals im Laufe eines Lebens«, kann man hier lesen. Bereits »im Augenblick der Geburt selbst, tritt der Tod in unser Leben ein«, heißt es gleich zu Beginn, und der Leser denkt, Imre Kertész lässt grüßen. Der Vergänglichkeit Schriften abringen, »alles auf dieses eine Ding zu setzen und es gut zu tun«. Ausführlich beschreibt Espedal dieses Ringen und beschwört eine mystische, geisterhafte Begegnung mit dem Tänzer Rudolf Nurejew, der ihm wie aus einer anderen, »mythologischen Welt« vorkommt. In Venedig ausgerechnet; da ist Espedal 19. Er fühlt sich bestärkt, seinem Weg treu zu bleiben, obwohl er noch nichts vorzuweisen hat. Und er findet seinen Weg, nach vielen Umwegen, Abstürzen, Irrtümern. »Er hatte Lust zu schreiben«, triumphiert er. » Lust, anders zu leben, als von ihm erwartet wurde, er hatte Lust frei zu sein.«
Espedals Sprache (erneut in sensibler Übertragung aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel) ist betörend. Der Klang reißt mit, ist fabelhaft, die Figur beispielgebend. »Was ist das Leben«, fragt er, »wie sollen wir es leben?« Der Kunst vertrauen, der Kreativität, den eigenen Träumen. Tomas Espedal macht Mut, die eigenen Zweifel zu überwinden und das Scheitern nicht überzubewerten.
Tomas Espedal: Lust. Früchte einer Arbeit. Lesefrüchte. A. d. Norw. v. Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz, 320 S., geb., 26 €.
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