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Die Macht der Gefühle
Die Soziologin Eva Illouz analysiert, wie Emotionen die Gesellschaften formen
Die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz war für den wichtigsten Kulturpreis Israels nominiert. Bildungsminister Yoav Kisch hat die Nominierung jetzt zurückgenommen. Der Professorin wird vorgeworfen, 2021 eine Petition an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag unterzeichnet zu haben, in der 180 Wissenschaftler, Politiker und Künstler den ICC aufforderten, sich bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen in Gaza, Ostjerusalem und Westbank nicht auf Israels Behörden zu verlassen.
All you need is Love – die Beatles haben es einer riesigen Gemeinde verkündet, 1967, bei der allerersten jemals ausgestrahlten Fernseh-Livesendung. Viele haben daran geglaubt, glauben daran auch heute. Immer wieder wird der Liebe weltverändernde, sogar erlösende Qualität angedichtet. Eine solche Sichtweise ist für Eva Illouz ebenso beliebt wie falsch. Die in Jerusalem und Paris lehrende Soziologin nimmt Gefühle ernst; ihrer Ansicht nach machen sie viel mehr aus den Menschen, als orthodoxe Vertreter der Wissenschaft glauben.
Gefühle sind vielschichtig und widersprüchlich, geben vielfach zu Romantik wenig Anlass. Beispielsweise der Neid. Wer hat nicht schon das Leben anderer als erstrebenswerter als das eigene empfunden – sich selbst damit aber auch kleingemacht. Eva Illouz, 1961 in Fès, Marokko, geboren, weist auf Untersuchungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu hin, die aufzeigen, wie Menschen die Lebensstile anderer nachahmen, um ihr Ansehen zu erhöhen. Woraus hervorgeht: Das Gefühlsleben ist nur vermeintlich privat, stets findet es in gesellschaftlichen Zusammenhängen statt.
Um zu skizzieren, welch enorme Rolle es stets für die Gattung Mensch gespielt hat, sich an den Emotionen abzuarbeiten, nimmt Eva Illouz den Leser mit auf Exkursionen durch die Kulturgeschichte. Wobei ihr, für eine Denkerin durchaus überraschend, literarische Werke als wesentliche Quellen dienen – und eben gerade nicht philosophische Schriften. Das ähnelt dem Vorgehen des ungemein klugen Berliner Gelehrten Klaus Heinrich (1927–2020), der die Zunft der Philosophen und Wissenschaftler, der er selbst angehörte, wiederholt dafür kritisiert hat, mit einem Mummenschanz der hochverdichteten, abstrakten Begriffe den exakten Blick auf das Reale zu verstellen.
Womit wir bei »Madame Bovary« angelangt sind, Gustave Flauberts Romanklassiker aus dem 19. Jahrhundert, dessen Deutung breiten Raum im neuen Buch von Eva Illouz einnimmt. Die Titelheldin, jung und attraktiv, lebt in der französischen Provinz. Der Apotheker, mit dem sie verheiratet ist und der sie innig liebt, vermag ihren Hunger auf mehr Glanz im Leben in keiner Weise zu stillen, weshalb sie sich in heimliche Affären mit privilegierten oder privilegiert scheinenden Männern stürzt. Worauf die Autorin das Augenmerk lenkt, sind die Quellen der Sehnsüchte dieser Frau, nämlich kitschige Liebesromane, Frauenzeitschriften, Werbung mit ihren konfektionierten Bildern und Formeln.
In einem anderen Kapitel geht es um Annie Ernaux, deren beinahe gesamtes Werk ihre Herkunft aus einer armen Familie der sogenannten Unterschicht umkreist. Selbst als die französische Schriftstellerin zu einer weithin anerkannten Autorin geworden ist, empfindet sie noch immer eine tief sitzende Klassenscham. Wie bei ihr, so bei Madame Bovary: Die Vorstellungen darüber, was ein lebenswertes Leben ausmacht, übernehmen Menschen häufig den Bewertungsmaßstäben anderer, die somit ein Einfallstor in die Seele sind. Mit weitreichenden Folgen. Ganze Industrien stellen, um solch starke Emotionen wie enttäuschte Erwartung oder Scham abzumildern, eine unüberschaubare Palette von Produkten her – unsere Gefühle nähren den Kapitalismus. Nur weckt die Konsumwelt, wie Eva Illouz schreibt, fortwährend Bedürfnisse, die sie gar nicht befriedigen kann.
Die daraus resultierende, gleichsam systemimmanente Enttäuschung legen viele Menschen der bestehenden Gesellschaft zur Last. Verstärkt durch die sozialen Medien, in welchen eine aufgepeitschte kollektive Erregung Dauerzustand ist, entscheidet dieses stetig wachsende Gefühl der Enttäuschung inzwischen Wahlen.
Noch dramatischer das Kapitel über die Furcht. Diese gehört laut Eva Illouz zur Grundausstattung des Fluchttiers Mensch, ist eine Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung. Weil die Furcht einem unaufhörlich die eigene Verletzlichkeit vor Augen führt, drängt diese Emotion das Denken gänzlich zurück. Manche Historiker sehen Staatsbildungen als einen seit Hunderten von Jahren laufenden Versuch, die Furcht einzudämmen. Die Gemeinschaft gewährt dem Einzelnen Schutz und schränkt auch die Gewaltausübung unter ihren Mitgliedern ein, beseitigt somit die Quellen der Furcht.
Doch die Furcht hat nie aufgehört. Und wird von Politikern – auch in liberalen Gesellschaften – häufig instrumentalisiert. So haben in den 50er Jahren republikanische Kreise in den USA die Furcht vor dem »bedrohlichen« Sowjet-Kommunismus gezielt geschürt und die bürgerlichen Freiheiten mit Zustimmung weiter Teile der hochgradig in Erregung versetzten Bevölkerung aus vermeintlichen Sicherheitsgründen massiv eingeschränkt.
Das Gefühl der Furcht, so das Fazit der israelischen Autorin, bietet stets einer rechten Politik Vorteile. Denn diese beruht auf der Vorstellung einer in Freunde und Feinde aufgeteilten Welt; sie verspricht maximale Bevorzugung der Eigengruppe und eine maximale Ausschaltung der Feinde. Was offenkundig immer wieder Menschen viel mehr anzieht als eine liberale, sprich: aufgeklärte Gesellschaft. Deren Ideal es ja ist, durch Wissen über die tatsächliche Beschaffenheit der Welt von der Furcht zu befreien, das gesellschaftliche Zusammenleben angstfrei zu gestalten.
Was folgt aus all dem? Vielleicht entfaltet das Buch von Eva Illouz seine Qualitäten dann am besten, wenn man es nicht als eines über irgendeinen mit wissenschaftlichen Mitteln untersuchten Gegenstand nimmt, sondern als Blick in den Spiegel. Dann nämlich wären die Leser bei dem, was die Autorin darlegt, immer auch mitgemeint. Beispielsweise in der schönen Passage über Heinrich von Kleists Novelle »Michael Kohlhaas«. Je mehr deren Held sich in seinen anfangs berechtigten Zorn hineinsteigert, desto mehr verliert er das, was literarische Figuren und menschliche Lebewesen am interessantesten macht, meint Eva Illouz, nämlich »die Fähigkeit, auf sich selbst zu reflektieren, die Grundsätze ihres Tuns in Zweifel zu ziehen, zu zögern und abzuwägen – und sich zu ändern«.
Würden diese Sätze wirklich beherzigt, höbe es die Selbstgerechtigkeit radikal aus den Angeln, von der so viele Menschen gerade auch hierzulande bestimmt sind. Das wäre mal ein Schritt, der aus der allseits beklagten gesellschaftlichen Misere herausführt.
Eva Illouz: Explosive Moderne. A. d. Engl. v. Michael Adrian. Suhrkamp, 447 S., geb., 32 €.
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