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Kommandantin in Syrien: »Nicht nur mit einer Waffe in der Hand«
Kommandantin der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) Nesrin Abdullah spricht über Syriens Zukunft
Am 10. März wurde ein Abkommen verkündet zwischen dem Übergangspräsidenten Ahmad Al-Scharaa und dem Oberkommandierenden der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), Mazlum Abdi. Was wurde da vereinbart?
Es wurden acht Punkte vereinbart, dementsprechend sollen acht Komitees die notwendigen Aufgaben in Angriff nehmen. Zwei Tage später wurde jedoch eine Verfassung verkündet, die sich im Grundsatz nicht von der Verfassung des Baath-Regimes von 2012 unterscheidet: eine arabische Republik Syrien auf Grundlage des Islams, deren Präsident Muslim sein muss. Diese vorläufige Verfassung stellt eine Missachtung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, eine Verleugnung ihrer Autonomie, ihrer Kultur, ihrer Religion und ihrer Sprache dar. Obwohl Syrien das Heimatland aller ist, musst du Araberin sein, um Bürgerinnenrechte zugestanden zu bekommen.
Was kritisieren Sie noch daran?
Ein anderer Aspekt ist die Frauenfrage, die wichtig ist für Syrien. Die Garantie ihrer Rechte und ihrer Autonomie wurde ebenfalls nicht in dieser Verfassung verankert. Die Frau wird einmal mehr auf ein biologisches Lebewesen herabgewürdigt, das sich im Rahmen der Prinzipien des Islams zu organisieren hat. Das heißt, dem Mann zu dienen, Kinder zu gebären und sich um den Haushalt zu kümmern. Das geht so weit, dass einige Vertreter der Übergangsregierung der Meinung sind, dass Frauen aufgrund ihres physischen und psychologischen Zustands ungeeignet für militärische Aufgaben seien. Von welcher Seite man diese Verfassung auch betrachtet – sie ist weit entfernt von den Wünschen der syrischen Bevölkerung, der syrischen Revolution und der Frauenrevolution. Der Kampf dagegen wird weitergehen.
Kurz vor Unterzeichnung des Abkommens gab es in der Küstenregion Massaker an der alawitischen Bevölkerung. Welche Bedeutung hat das für die SDF und die Fraueneinheiten YPJ?
Diese Morde und Massaker sind ein Resultat einer zentralistischen, verengten und despotischen Politik. Damit diese Übergangsregierung wirklich alle Syrer*innen vertreten kann, muss sie sich die historische und gesellschaftliche Realität der syrischen Bevölkerung vor Augen führen. Nur eine Demokratisierung des syrischen Systems, das die Bedürfnisse der gesamten syrischen Gesellschaft auf Grundlage ihrer Autonomie erfüllt, wird akzeptiert werden.
Nesrin Abdullah ist Kommandantin und Mitbegründerin der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Mit Beginn der Revolution in Syrien 2011 beteiligte sie sich an der Frauenrevolution und am Aufbau eines demokratischen Syriens. Seitdem ist sie für die politische, ideologische und militärische Ausbildung zuständig, war sechs Jahre lang als Sprecherin tätig und weitere sechs Jahre in der Diplomatie. Dabei traf sie viele Politiker, unter anderem den ehemaligen französischen Präsidenten François Hollande, später auch Emmanuel Macron.
Warum haben Sie sich für den bewaffneten Kampf entschieden?
Weil das kurdische Volk seit langer Zeit vom Kolonialismus in die Zange genommen wird. Daher habe ich vom ersten Tag an am Aufbau der YPJ, der Frauenverteidigungseinheiten, mitgewirkt. Neben der strategischen Ausrichtung haben wir auch die ideologisch-philosophische Linie diskutiert. Die YPJ sind nicht nur Frauen, die eine Waffe in der Hand halten. Das ist kein vollständiges Bild. Dass wir die Waffe in die Hand genommen haben, war für unsere Selbstverteidigung notwendig. Selbstverteidigung ist für uns ein philosophisches, ideologisches und gesellschaftliches Thema und unseren Kampf führen wir auf Grundlage der legitimen Selbstverteidigung.
Wodurch ist die ideologische Grundlage der YPJ charakterisiert?
Unsere Grundlage ist die Frauenbefreiungsideologie: Freiheit für uns Frauen kann nur in einer demokratischen und ökologischen Gesellschaft garantiert werden. Darin wollen wir Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit sowohl für Frauen als auch für Männer realisieren. Wir glauben fest daran, dass in einer demokratischen Gesellschaft ein freies Zusammenleben möglich sein wird. Als Frauen sagen wir, dass wir uns so gut verteidigen können, wie wir uns selbst kennen. Unser Slogan lautet daher: »Lerne dich selbst kennen und verteidige dich.« Während es seit Jahrtausenden immer Armeen der Männer gab, haben sie uns zu keinem Zeitpunkt verteidigt, sondern die Waffen dazu benutzt, uns umzubringen.
Am 27. Februar wurde eine Erklärung Abdullah Öcalans veröffentlicht. In dieser wird zu einem neuen Friedensprozess aufgerufen. Wie wurde der Aufruf in Nord- und Ostsyrien aufgenommen?
Natürlich haben wir den Aufruf Abdullah Öcalans verfolgt. Wir selbst verstehen ihn als historisch, auch wenn es nicht sein erster für einen Waffenstillstand ist. Wenn tatsächlich der Weg für eine demokratische Politik geöffnet werden sollte, dann haben wir große Hoffnung, dass sich viele Probleme in der Region lösen werden. Klar ist, dass wir unsere Probleme nicht mit Waffen, sondern mit demokratischen Mitteln lösen müssen. Das bedeutet aber nicht, sich von den eigentlichen Zielen zu entfernen, sondern lediglich die Methode zu ändern, wie diese erreicht werden.
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Welche Bedeutung hat der Aufruf von PKK-Chef Öcalan zur Niederlegung der Waffen für den Nordosten Syriens?
Der Aufruf Öcalans, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen, war an die PKK gerichtet. Die Aufnahme des bewaffneten Kampfes war nicht unsere Entscheidung, sondern eine Notwendigkeit. Wenn also eine Situation entstehen sollte, in der wir an einem demokratischen System teilhaben können, dann müssen wir nicht mehr zu den Waffen greifen. Bereits mehrfach haben wir betont, bereit zu sein, ein Teil der Selbstverteidigungskräfte Syriens zu werden. Die Angriffe der Türkei auf unsere Region halten aber derweil an. Die Ausrede, sie würde gegen die PKK vorgehen, fiele mit einem erfolgreichen Friedensprozess weg. In der ganzen Zeit der Revolution haben wir sowohl direkt als auch über Vermittler*innen versucht, in einen Dialog zu treten. Bis heute haben wir keinen Angriff auf das Gebiet der Türkei durchgeführt. Stattdessen versucht die Türkei gerade jetzt, die Kontrolle über Syrien auszubauen und sich Aleppo als den 82. Kanton einzuverleiben.
Seit Dezember 2024 halten die Angriffe der islamistischen Syrischen Nationalarmee an. Wie ist die militärische Lage?
Die islamistischen Milizen, die uns seit Jahren angreifen, sind mittlerweile Teil der sogenannten neuen Regierung. Gerade halten die Kämpfe insbesondere am Tischrin-Staudamm und an der Karakozak-Brücke an, die über den Euphrat führt. Die Türkei hat dafür all ihre Kräfte in Bewegung gesetzt. Mehrfach haben sowohl die SDF als auch die Selbstverwaltung ihre Bereitschaft zum Dialog über den Aufbau eines neuen Syriens und eine neue Verfassung erklärt. Gemeinsam hätten wir einen nationalen Kongress organisieren und die wahrhaften Vertreter*innen des neuen Syriens bestimmen können. Da dies aber nicht geschehen ist, werden diejenigen Menschen, die 14 Jahre lang die Revolution gegen das Assad-Regime vorangetrieben haben, das Regime von Ahmad Al-Scharaa alias Al-Dscholani nicht akzeptieren können.
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