Argentinien: Der Widerstand wird lauter

Die Schocktherapie von Argentiniens Präsident Milei bringt die Bevölkerung in Not

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 5 Min.
Graciela Baum, eine Rentnerin, schlägt während der Proteste gegen Mileis Politik gegen eine Polizeiabsperrung.
Graciela Baum, eine Rentnerin, schlägt während der Proteste gegen Mileis Politik gegen eine Polizeiabsperrung.

Der große Generalstreik findet am Donnerstag statt. Aber bereits am Mittwoch hatte der Allgemeine Gewerkschaftsbund CGT zum erweiterten Generalstreik ab zwölf Uhr mittags aufgerufen, dem sich zahlreiche alternative Gewerkschaften, soziale Basisorganisationen und linke Parteien angeschlossen hatten. Die Gewerkschafter unterstützten damit die Rentner*innen, die seit Jahren jeden Mittwoch vor dem Kongress in Buenos Aires für bessere Renten demonstrieren. »Zur Verteidigung der Löhne und der Rechte der Rentner« lautet denn auch eines der Mobilisierungsmottos.

Dritter Generalstreik gegen Milei

Es ist der dritte Generalstreik gegen die Politik des seit Dezember 2023 regierenden rechtslibertären Präsidenten Javier Milei. Der Aufruf zum Ausstand erfolgte Mitte März einen Tag nach der brutalen Repression der Proteste von Rentner*innen durch die von Sicherheitsministerin Patricia Bullrich entsandten Polizeikräfte, die unzählige Menschen verletzt zurückgelassen hatten. Darunter war ein Fotojournalist, dem von einer abgeschossenen Tränengasgranate das Gesicht aufgerissen wurde. Er liegt weiter schwer verletzt im Krankenhaus. Doch statt den dafür verantwortlichen Schützen zur Verantwortung zu ziehen, hat die Regierung auch jenen Fotografen von der Liste ihrer freien Mitarbeiter gestrichen, dessen Foto maßgeblich zur Identifizierung des Gendarmen beigetragen hatte.

»Wenn die wöchentlichen Proteste der Rentner und der Generalstreik am Donnerstag ein größeres Ausmaß an sozialer Unruhe belegen, dann könnte auch die politische Opposition gegen Milei Morgenluft wittern«, sagte der Politikwissenschaftler Lucas Romero dem »nd«. 2024 war trotz Mileis Schocktherapie mit seinem rigoros durchgeführtem Anpassungs- und Sparprogramm ein vergleichsweise ruhiges Jahr, nimmt man die sozialen Proteste auf der Straße und die Abstimmungen im Kongress als Gradmesser. »Das Jahr 2024 endete für Milei viel besser als erwartet. Dagegen begann das neue Jahr schlechter als erwartet«, so der Analyst vom Meinungsforschungsinstitut Synopsis in Buenos Aires. Die Geduld der Gesellschaft schwindet, und der politische Widerstand wächst. Der Imagewert des Präsidenten und die Unterstützungswerte für seine Regierung sind in den ersten Monaten des Jahres gesunken. »Die Zustimmung der Bevölkerung zu Milei liegt heute bei 40 Prozent, während die Ablehnung auf knapp 55 Prozent gestiegen ist«, so der Analyst. Im vergangenen Jahr hatte der Rückhalt stets um die 50-Prozent-Marke gelegen.

Bisher brachte Mileis Wirtschaftspolitik gute Ergebnisse in Sachen Inflation, Haushaltsdisziplin und stabiler Dollarkurs. Die sinkende Inflationsrate hat zum Rückgang der Armut geführt. Im Präsidentenpalast herrschte Jubelstimmung, als das nationale Statistikinstitut Indec Ende März die Armutsquote für das zweite Halbjahr 2024 veröffentlichte. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2024 war die Quote von 52,9 Prozent auf 38,1 Prozent gesunken. Von den 45 Millionen Argentinier*innen leben 11,3 Millionen Menschen in Armut, davon 2,5 Millionen in extremer Armut. Auch international wurden die Werte als Erfolg von Mileis Anpassungspolitik gefeiert. Ein Blick auf den Jahresvergleich zeigt jedoch, dass kein Anlass zur Freude besteht. Von Ende 2023 bis Ende 2024 sank die Quote nur um 3,6 Prozent und liegt damit nur knapp unter der Armutsquote von 41,7 Prozent, die Milei zu Beginn seiner Amtszeit übernommen hatte. Der Anstieg im ersten Halbjahr 2024 auf erschreckende 52,9 Prozent war seiner radikalen Sparpolitik geschuldet, mit der unter anderem Tarifsubventionen abgebaut sowie die Mieten und Medikamentenpreise dereguliert wurden, was zu starken Preisanstiegen führte.

Die multidimensionale Armut nimmt zu

»Der Anstieg der Fixkosten für Verkehr, Kommunikation, Strom, Wasser, Gas usw. bedeutet, dass die Kapazität für den Konsum von Lebensmitteln und anderen Grundgütern tatsächlich gesunken ist«, heißt es im Armutsbericht, den das renommierten Observatorio de la Deuda Social der Katholischen Universität in Buenos Aires im Februar veröffentlichte. »Wir messen die multidimensionale Armut, die unter anderem das Recht auf Nahrung, Gesundheit und Bildung als Referenz nimmt. Diese Armut nimmt seit 2018 zu, und wir sehen keine kurzfristige Verbesserung«, so Juan Ignacio Bonfiglio vom Observatorio.

Die Armutsgrenze wird nach dem Wert eines Basiswarenkorbs für eine vierköpfige Familie bemessen. Viele Haushalte pendeln um diesen Wert. Steigen deren Einnahmen auch nur leicht an, liegen sie bei einer niedrigen Inflationsrate schnell darüber. »Die Frage ist: Wie nachhaltig ist das?«, so Lucas Romero. Noch sei der Optimismus groß, doch es gebe erste Anzeichen dafür, dass die Inflation wieder steigen könnte, anstatt weiter zu sinken, so der Analyst.

Im Kongress aus Senat und Abgeordnetenhaus wächst bereits der Widerstand. Im vergangenen Jahr konnte Milei trotz seiner Minifraktionen im Abgeordnetenhaus und im Senat mittels Stimmen aus der rechten und gemäßigten Opposition viele Gesetzesvorlagen und Dekrete durchbringen. Dass der Rückhalt schwindet, zeigt das Verfahren, mit dem sich Milei freie Hand bei der Aushandlung eines neuen Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds geben lassen wollte. Um Debatten für den dafür vorgeschrieben Gesetzentwurf zu umgehen, legte Milei dem Kongress ein Dekret vor, das unverändert und nur von einer Kammer bewilligt werden muss. Und mit genau den dafür nötigen Stimmen von 129 Abgeordneten wurde es knapp angenommen. Dagegen scheiterte vergangene Woche Mileis Vorhaben, den Obersten Gerichtshof mit zwei Richtern per Dekret zu komplettieren, am Veto des Senats. Die entscheidenden Nein-Stimmen kamen aus dem Lager des neoliberalen Ex-Präsidenten Mauricio Macri (2015–2019).

Ob Milei den Zenit seiner Popularität bereits überschritten hat, ist noch längst nicht entschieden. Dass die Lautstärke auf der Straße zunimmt, ist eine Sache. Dass nun auch im Kongress der Widerstand wächst, ist der vorgezogenen Wahl zum Stadtparlament der Hauptstadt Buenos Aires geschuldet. Eigentlich ein Urnengang, um den landesweit normalerweise wenig Aufhebens gemacht wird, ist sie zur Mutter aller Schlachten im rechten Lager mutiert, seit Milei beschlossen hat, keine Allianz mit der Partei PRO von Macri einzugehen, sondern mit einer eigenen Kandidat*innenliste anzutreten.

Noch ist der autonome Stadtstaat Macris politische Hochburg. Wenn am 18. Mai die Hälfte der 60 Abgeordneten des dortigen Parlaments neu gewählt wird, geht es um die Vorherrschaft rechts von der Mitte. Kein Wunder also, dass sich gegenwärtig auch konservative Medien kritisch gegen Milei wenden und in der Hauptstadt eine Stimmung verbreiten, als wäre dessen Stern im Sinkflug. »Mileis Entscheidung zielt darauf ab, die Wählerschaft der PRO für sich zu gewinnen und letztlich Macris Partei zu verdrängen«, analysiert Lucas Romero. Statt einer Allianz, scheint Milei alles für sich zu wollen, um sein eigenes Projekt aufzubauen. Milei setzt also auf Risiko, ob in Buenos Aires oder in der Wirtschaftspolitik. Den Preis zahlen bisher andere.

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