- Kultur
- »Oslo Stories: Liebe« im Kino
Das Leben ist kurz genug
»Liebe«, der letzte Teil von Dag Johan Haugeruds Trilogie »Oslo Stories«, ist ein Film über verschiedene Lebens- und Liebesmodelle
»Bist du immer so? So nett?« Der einsame Prostatakrebspatient Bjørn kann nicht fassen, dass sich Krankenpfleger Tor seiner außerhalb der Dienstzeit annimmt. Tors Antwort: »Ja, das Leben ist kurz genug.«
Auch die Zuschauerin bestaunt ungläubig die Worte und Taten des Filmpersonals in »Liebe«, dem letzten Teil von Dag Johan Haugeruds Trilogie »Oslo Stories«, die in umgekehrter Reihenfolge in die deutschen Kinos kommt. »Liebe« beginnt mit dem verstörten Gesicht eines Patienten, dem die Urologin Marianne eine schlechte Nachricht übermittelt. Als Tor sich traut anzumerken, dass der Betroffene nichts von ihren Ausführungen verstanden habe, reagiert die Ärztin ganz anders, als man reflexhaft erwartet. Gemeinsam holen sie den unter Schock stehenden Mann ins Sprechzimmer zurück. Es dürfte nicht häufig vorkommen, dass sich Krankenhauspersonal mit so viel Empathie und Zeitaufwand einem Einzelschicksal widmet und Ärztinnen die Einmischung eines Pflegers honorieren: »Ich bin dir so dankbar, dass du das angesprochen hast.«
Das ist die Vertrauensbasis, auf der Tor Marianne noch ganz andere Dinge offenbart, als sie sich zufällig nachts auf einer Fähre zwischen einer Insel und der Stadt im Oslo-Fjord wiedertreffen. Er ist hier im wahrsten Sinne des Wortes cruisend und grindernd unterwegs, schätzt dabei aber nicht nur die Unverbindlichkeit sexueller Abenteuer auf neutralem Boden, sondern auch die Romantik und die Nähe, die bei den postkoitalen Gesprächen mit Wildfremden entsteht. Es sei versaut und schön. Dort hat er auch ein Auge auf den Psychologen Bjørn geworfen, dem er in der Klinik wiederbegegnet – es ist die einzige Figur, die ebenfalls in den anderen beiden Teilen der Trilogie auftaucht.
Der norwegische Schriftsteller und Regisseur Dag Johan Haugerud versteht »Liebe« als Utopie.
Tors Liebesleben ist wiederum für Marianne, die ebenfalls mit einer beneidenswerten Offenheit durch ihren Alltag wandelt, eine Inspiration. Als ihre Freundin, die Historikerin Heidi, sie verkuppeln will und es sogar wie geplant zwischen ihr und einem Geologen funkt, weicht sie zu Heidis Entsetzen einer monogamen Bindung aus (und solidarisiert sich nebenbei mit dessen alkoholkranker Ex).
Ebenso wie die Zuschauerinnen zusammen mit Marianne einem Kurzvortrag des Geologen über Oslos Gesteinsgeschichte lauschen, sind sie bei Heidis queerer Stadtführung dabei, die sexuelle Bezüge in den historischen Skulpturen rund ums alte Rathaus einem Komitee für die 100-Jahr-Feier Oslos schmackhaft machen will (unterstützt von Cecilie Semecs schwelgerischer und durchaus lokalpatriotischer Kamera). Das Komitee lehnt ihren queerfeministischen Ansatz ab und verdonnert Heidi dazu, sich stattdessen mit dem egomanen norwegischen Starschriftsteller Karl Ove Knausgård herumzuschlagen.
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Ist Haugerud ein naiver Filmemacher wie Ken Loach, dessen Protagonist*innen allen Widrigkeiten zum Trotz moralisch erhaben bleiben? Der norwegische Schriftsteller und Regisseur lässt keinen Zweifel daran, dass er »Liebe« als Utopie versteht. Und die fällt offener und progressiver aus als die einfachen Botschaften eines Ken Loach. »Liebe« handle, so formuliert es Haugerud, »vom Streben nach sexueller und emotionaler Nähe zu anderen, ohne sich dabei unbedingt an die gesellschaftlichen Normen und Konventionen zu halten, die Beziehungen regeln«.
Es ist ein nicht nur ästhetischer Genuss, sich von diesem in jeder Hinsicht freundlichen Film in Diskussionen über verschiedene Lebens- und Liebesmodelle verwickeln zu lassen. Während Cis-Frau Marianne sich von der Monogamie abwendet, erweist sich der vermeintlich flatterhafte Schwule als verlässlich und bindungsfreudig. »Du musst nicht wiederkommen«, sagt Björn nach seiner OP. »Du musst mehr Vertrauen in die Menschen haben«, antwortet Tor und legt sich zu dem Versehrten ins Bett.
»Oslo Stories: Liebe«, Norwegen 2022. Regie und Buch: Dag Johan Haugerud. Mit: Andrea Bræin Hovig, Tayo Cittadella Jacobsen, Marte Engebrigtsen, Thomas Gullestad, Lars Jacob Holm. 119 Min. Kinostart: 17.4.
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