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Zwangssterilisation in Peru: Insistieren auf Gerechtigkeit
María Elena Carbajal ist eine von über 300 000 Frauen, die in Peru zwangssterilisiert wurden. Nach Jahren des Protests hofft sie auf Entschädigung
Der Marsch zum 8. März hat schon Tradition für María Elena Carbajal. Auch in diesem Jahr hat sie mit ihren Genoss*innen die Route durch das Zentrum der peruanischen Hauptstadt Lima koordiniert, Kundgebung und Redner*innen vor dem Justizministerium organisiert und mit ihren Mitstreiterinnen die Transparente vorbereitet: »Wir wollten und wollen auch weiterhin auf besonders gravierende Fälle wie den von Celia Ramos aufmerksam machen, aber auch auf meinen eigenen«, sagt die kleine, quirlige Frau und deutet auf ein Foto, das sie vor knapp dreißig Jahren zeigt. Schüchtern in die Kamera blickend und hochschwanger. »Das bin ich kurz vor der Geburt von Francisco, dem jüngsten meiner vier Kinder«, erklärt sie mit leiser Stimme. »Der Tag hat mein Leben auf den Kopf gestellt«, schiebt die heute 55-jährige Peruanerin noch hinterher.
Sie kam ins Hospital María Auxilidora im Stadtteil San Juan de Miraflores in Lima, um zu entbinden. Nur einen Tag später wurde sie als Sterilisierte entlassen. »Man hat mir gegen meinen Willen die Fruchtbarkeit genommen, mich sterilisiert. Der 18. September 1996 ist der Tag, an dem meine Grundrechte verletzt wurden«, so Carvajal. Damals war sie auf sich gestellt, hatte den Ärzten, die sie nach der Entbindung barsch aufforderten, ihre Einwilligung zur Sterilisation zu geben, wenig entgegenzusetzen. »Du hast bereits vier Kinder, das ist genug, sagte einer zu mir. Ein anderer fügte hinzu, ich sei doch kein Meerschweinchen«, erinnert sich Carbajal und zieht die Stirn missbilligend in Falten.
Den Satz haben sich in Peru Tausende Frauen, oft indigener Herkunft, anhören müssen, so Carbajal. Sie ist die Vorsitzende der AMPAEF in Lima und Callao. Die sechs Großbuchstaben stehen für »Vereinigung der von Sterilisation betroffenen peruanischen Frauen«, und María Elena Carbajal leitet die Sektion für Lima und Callao. »Ich vertrete etwas mehr als 300 zwangssterilisierte Frauen und 22 Männer im Großraum Lima«, erklärt die kleine, quirlige Frau mit dem kastanienbraunen, hochgesteckten Haarschopf. Landesweit hat die AMPAEF mehr als 3000 weibliche und knapp 500 männliche Mitglieder – organisiert in 13 Landesverbänden.
Erst viele Jahre später, 2017, brachte Carbajal den Mut auf, sich zu engagieren. Lange Zeit habe sie nur funktioniert, sich um ihre vier Kinder gekümmert, denn Ehemann Manuel Jesús Jiménez hatte noch im Krankenhaus kehrtgemacht, als er hörte, dass seine Frau sterilisiert worden sei. »Ich hatte Francisco auf dem Arm, erklärte, was mir passiert war, und er ließ mich sitzen«, erinnert sich Carbajal mit einem Kopfschütteln und fährt fort: »Er hat gedacht, dass ich ihn betrügen wolle, dass ich mich sterilisieren lasse, um gefahrlos mit anderen Männern Sex zu haben – ein typischer Macho«, sagt sie und rollt genervt mit den Augen.
Es hat lange gedauert, bis sich Elena Carbajal von den Schuldgefühlen einigermaßen freimachen konnte. Allein musste sie die vier Kinder durchbringen. »Mein Mann hat nie auch nur einen Sol an Unterhalt gezahlt«, sagt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Nach neun Jahren Ehe musste ich für mich und die Kinder sorgen, eine neue Perspektive aufbauen. Ich bin putzen gegangen, habe als Verkäuferin gearbeitet, als Straßenhändlerin an großen Verkehrskreuzungen alles Mögliche verkauft – manchmal auch nachts«, erinnert sich Carbajal mit einem bitteren Lachen. De facto sei sie doppelt bestraft worden: einmal durch die Sterilisation und deren negative gesundheitliche Folgen und zum Zweiten, weil sie sich wirklich um alles allein kümmern musste. An diesem Punkt taucht ihr ältester Sohn Manuel auf, tätschelt ihr die Schulter, reicht ihr und dem Besucher eine Limonade und verschwindet – verfolgt vom dankbaren Blick seiner Mutter – wieder in der Küche.
Manuel wohnt ein Stockwerk über seiner Mutter in Lurín, kocht wie heute öfter für die beiden und ist da, wenn sie ihn braucht. Lurín ist einer dieser staubigen Vororte von Lima, die Perus Elf-Millionen-Metropole von drei Seiten einfassen. Die vierte Seite bildet das Meer, mit Hafenanlagen von Callao, dem alten Fischerort Chorrillos, dem Armenviertel Villa Salvador, an das sich Lurín anschließt. Erdölverarbeitende Industrie und produzierendes Gewerbe prägen den gräulich-ockerfarbenen Sandstreifen, der von Neubausiedlungen durchbrochen ist – vor allem in zweiter Reihe.
In einem dieser Blöcke, »La Estancia«, lebt María Elena Carbajal seit nunmehr 17 Jahren. »2007 bin ich in dieses Neubauprojekt reingerutscht. Es war eine seltene Chance, trotz wenig Geld eine eigene bezahlbare Wohnung zu ergattern, da habe ich nicht lange gezögert«, erinnert sie sich mit einem zufriedenen Lächeln. Mittlerweile ist die kleine, einfache Wohnung weitgehend abbezahlt und die Hoffnung, dass sich ihre Kinder in direkter Nachbarschaft ansiedeln, ist voll aufgegangen. »Manuel wohnt über mir, Francisco ein paar Häuser weiter links und meine beiden Töchter, Maryori und Marshall, sind auch nur einen Steinwurf entfernt untergekommen«, erklärt sie und deutet bei jedem der Namen auf die jeweiligen Fotos ihrer vier Kinder auf dem Sims gegenüber vom Sofa. Auf dem Sofa, gleich links von der Eingangstür, oder am Esstisch weiter vorne, gegenüber von der Küche, sitzt sie gerne. Auf dem Tisch liegen heute die beiden Mappen mit den Flugblättern der AMPAEF und den Ausdrucken von den letzten Aktionen, darunter dem Marsch vom 8. März.
Der endete vor dem Ministerium für Justiz und Menschenrechte, wo die Aktivist*innen auf Bannern, Flugblättern und mit Sprechchören die Umsetzung des Urteils des »UN-Komitees für das Ende aller Formen der Diskriminierung der Frau«, kurz CEDAW, einforderten. Das Komitee hat am 30. Oktober 2024 die peruanische Regierung aufgefordert, alle Opfer gewaltsamer Sterilisationen zu entschädigen. Das Vorgehen der damaligen Regierung von Alberto Fujimori habe die Grundrechte der Frauen verletzt, es seien weder eine umfassende Untersuchung noch eine angemessene finanzielle Entschädigung und die psychologische Hilfe erfolgt, schreibt das Komitee in seinem Urteil.
Das ist für María Elena Carbajal ein Hoffnungsschimmer, denn sie ist eine von fünf Frauen, deren Fälle exemplarisch für mehr als rund 300 000 andere analysiert wurden. Laut den Ergebnissen einer Untersuchungskommission des peruanischen Parlaments sind 314 605 Sterilisationen von Frauen und weitere 24 563 von Männern zwischen 1993 und 1999 durchgeführt worden. Warum?
»Dabei ist mir das Pardon wichtiger als Geld. Der Staat muss anerkennen, dass uns Unrecht widerfahren ist.«
María Elena Carbajal
Der diktatorisch regierende Präsident Alberto Fujimori (1990–2000) wollte das als Beitrag zur Geburtenkontrolle und zur Armutsbekämpfung verstanden wissen. Fujimori, im September 2024 verstorben, regierte das Land mit harter Hand, führte einen brutalen und überaus blutigen Krieg gegen die indigen geprägte maoistische Guerilla des Leuchtenden Pfades und das Movimiento Revolucionario Túpac Amaru (MRTA). Mehr als 70 000 Tote, das Gros indigener Herkunft, dokumentierte die Wahrheitskommission unter ihrem Vorsitzenden Salomón Lerner, und Analysten fragen, warum mehr als 90 Prozent der Opfer gewaltsamer Sterilisationen indigener Herkunft und arm waren? Diese Frage hat Alberto Fujimori, der persönlich mit seinen drei Gesundheitsministern für die Pläne für die Sterilisationskampagne, aber auch für Quoten und Erfolgsprämien verantwortlich war, nie beantwortet. Rassismus, eine extrem klassizistische Gesellschaftshierarchie und ein hohes Maß an Ignoranz der gesellschaftlichen Eliten machen Experten wie der bereits erwähnte Salomón Lerner dafür verantwortlich.
María Elena Carbajal, anders als viele der Zwangssterilisierten keine Indigene, weiß genau, weshalb sie in das Raster des medizinischen Personals geriet. »Die beiden zentralen Kriterien waren Armut und Zugehörigkeit zu einer indigenen Ethnie. Beide Kriterien sind bis heute ein gesellschaftliches Ausschlusskriterium«, erklärt Carbajal mit fester Stimme. Sie ist heute auf Medikamente gegen ihre Rückenschmerzen angewiesen. Zudem kann sie nicht lange stehen, und Gebärmutter und Scheide haben sich verschoben. Diagnostizierte Spätfolgen einer OP, bei der nicht wie eigentlich vorgesehen, die Eileiter durchtrennt wurden, sodass keine Eizellen mehr den Weg in die Gebärmutter finden, sondern die Eileiter entfernt wurden. Direkte Folge war, dass der Hormonhaushalt der 26-Jährigen massiv gestört war. Sie kam direkt in die Wechseljahre, hatte fortan unter Hormonmangel und einem Defizit an Mineralien zu leiden.
»Das geht vielen zwangssterilisierten Frauen so: Wir sind Anfang 50, Anfang 60, aber fühlen uns wie 80 und sind zu kaum etwas zu gebrauchen«, sagt Carbajal mit einem bitteren Lachen. Erstmals schwingt etwas Niedergeschlagenheit in der Stimme der kämpferischen Frau mit. Wiedergutmachung und eine offizielle Entschuldigung fordert sie ein – für sich und alle anderen. »Dabei ist mir das Pardon wichtiger als Geld. Der Staat muss anerkennen, dass uns Unrecht widerfahren ist«, sagt Carbajal mit leiser Stimme und funkelnden Augen.
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