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Was macht Shermin L. in der Naunynstraße?
Die zweite Migrantengeneration beginnt, ihre Geschichte(n) zu erzählen
Berlin-Kreuzberg, Naunynstraße. Das »Ballhaus« im Haus Nummer siebenundzwanzig, schmalbrüstig und schrundig vom Alter und vom kalten Odem der Zigaretten, die junge Türkinnen, barhäuptig, auf offener Straße rauchen, unterscheidet sich, schlendert man nur vorbei, kaum von seinen verlebten Nachbarn. Tritt man aber durch das Holztor, durchquert den Hof zum Hinterhaus und wirft einen Blick hinein, erlebt man eine Überraschung: Handwerker beenden gerade den Umbau eines Theatersaals. Es handelt sich um einen Saal von mittlerer, handhabbarer Größe mit hoher alter Stuckdecke, eine Raumfront wird dominiert von gebogten Glastüren, die man während der Vorstellungspausen sperrangelweit wird öffnen können und durch die man eine Terasse erreicht, die einlädt, an einem Glas Wein oder einem Glas Wasser zu nippen. Davor ein schmaler Streifen Toskana, ein Gärtchen mit mediterranen Gewächsen, die allerdings noch nach Pflege schreien. Sogar für eine Probebühne und eine Bar im Ober- und im Untergeschoss bietet das Gebäude Platz – mir ist kein Off-Theater bekannt, das solch ein luxuriöses Haus, einen Palast, zur Verfügung hätte. Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie und der Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, dem die Immobilie gehört, haben tief in die Tasche gegriffen. Wo Integration gescheitert ist, geizt man nicht mit Integrations-Projekten.
Bis zum 7. November 2008 soll der Umbau beendet sein. Dann wird das »Ballhaus« wiedereröffnen. Mit »Dogland«, einem Festival des »Jungen postmigrantischen Theaters«. Ein Premierenmarathon: Bis zum 29. Januar darf man sechs Uraufführungen erwarten. Inszenierungen, verspricht Shermin Langhoff, die »andere Geschichten als die der ersten Migrantengeneration erzählen«.
Das Festival wird Shermin Langhoffs Einstand als neue künstlerische Leiterin des »Ballhauses Naunynstraße«. Mit Wespentaille und (allerhöchstens) Kleidergröße sechsunddreißig ist es nur der Hauch einer Frau, der an diesem Morgen ins Büro schwebt; im Gespräch wird daraus ein Orkan: Sie überwältigt einen. Es liegt nicht am exaltierten Hütchen, das sie auf fremdlockigem Haar trägt, auch nicht an den schönen Augen, in denen jedwede Ferne wohnt – es liegt an dem seltenen Talent, das man Offenheit, Herzlichkeit nennt. Ja, die Premieren, sagt Shermin Langhoff und zündet ein Feuerwerk von Namen, die Autoren und Regisseuren gehören und die zu schreiben ich nicht geübt bin, »macht nichts«, hilft sie lächelnd aus, »dafür sind wir angetreten, damit Sie die Namen kennenlernen und sie sich Ihnen einprägen.«
Versuchen wir es einfach mal. Der Eröffnungsabend, so Shermin Langhoff, werde, parallel zueinander, gleich zwei Uraufführungen bieten. Die eine soll die Zuschauer durch zwölf anatolische Cafés, in denen zwölf Regisseure und Regisseurinnen, bildende Künstler und Filmemacher Miniperformances gestalten, durch Kreuzberg und Neukölln führen. Arbeiten von Züli Aladag, Sinan Akkus, Miraz Bezar, Neco Çelik und anderen – das mit dem Einprägen wird schwierig. Der Projekttitel »KAHVEHANE – Turkish Delight, German Fright?«, zu deutsch »Das Kaffehaus – der Türken Entzücken, der Deutschen Schrecken?«, sei ein wenig provokant: Er konnotiere Milchglasscheiben, durch die man nicht blicken kann, eine Art Migration von Räumen.
Das zweite Projekt trage den Titel »Café Europa vs. Dog eat Dog« und werde im »Ballhaus« uraufgeführt. Es montiere zwei Bücher aus der Heimattriologie von Nuran David Calis ineinander. »Nuran David Calis kennen Sie? Er hat in München, Hannover und Essen inszeniert, zur Zeit ist er am ›Thalia‹ in Hamburg.« Erzählt werde von einem Türsteher, als »Metapher für das Dazwischensein, nicht nur für die Heimatlosigkeit von Migranten«. Shermin Langhoff sagt, sie habe weinen müssen, als sie den Prolog des ersten Stückes las: Darin lasse Calis den Türsteher mit seinen toten Eltern sprechen. Calis sei jüdisch-armenischer Herkunft, sie selbst habe viel zum Massaker an den Armeniern recherchiert, »weil ich Empathie habe, weil Minderheiten mich interessieren. Reinheit interessiert mich nicht, für jede Gesellschaft ist es gut, Dissidenten, das Andere zu haben, auch deshalb wird sie daran gemessen, wie sie mit Minderheiten umgeht.« Dann sagt sie noch: »Meine Motivation, in die Kulturproduktion zu gehen, war eine politische.«
Shermin Langhoff, Jahrgang 1968, besitzt einen deutschen Pass. Doch als Deutsche fühlt sie sich nicht, nicht ausschließlich. Wer ist sie? Sie sagt: »Ich bin ein Bastard.« Schockierte Mienen sind erwünscht, sie pflegt sie allerdings zu glätten: Das Wort, so wie sie es verstehe, sei nicht negativ besetzt. Dass sie so Vieles in sich trage – kulturell, ethnisch und sozial – mache sie als Persönlichkeit aus. Diese Vielfalt anzuerkennen, stellvertretend für viele Menschen, nehme sie an als Herausforderung. »Es ist mein Weg, der Weg, den ich gehe. Mein kulturelles Kapital, mit dem ich arbeite.«
Aufgewachsen in der Türkei, in einer Kleinstadt am Meer, bei den Großeltern, halben Analphabeten, wie sie berichtet, sei, was Migration bedeutet, für sie sehr früh erfahrbar gewesen. Der Ururgroßvater tscherkessischer Herkunft, 1864 ins osmanische Reich vertrieben, während fast eine von drei Millionen Tscherkessen von Russen umgebracht wurden. Sein Sohn, der Ugroßvater, starb für die Befreiung der Türkei an den Dardanellen, während Atatürk, der aufgrund des Widerstands von Cerkez Etem und seinen Mannen ganze tscherkessische Dörfer, auch das des Urgroßvaters, zerstörte.
Die Urgroßmutter mütterlichseits kam aus dem griechischen Thessaloniki. Ursprünglich osmanischer Herkunft, war sie, nach der Befreiung der Stadt von den türkischen Okkupanten, nach Kleinasien zurückgekehrt, das Heimat zu nennen ihr nunmehr schwerfiel. Während der Überfahrt auf dem Schiff hatte sie ihren Sohn verloren, später dann auch ihren Mann, »Traumata, Verlustgeschichten, die ich alle in mir habe«. Wie auch die Weisheit des Verlusts. Ihre Großmutter habe immer gesagt: »Ein Haus kann mit einem Funken verbrennen, Schönheit mit einem Pickel vergehen, was du im Kopf und im Herzen trägst, kann dir keiner wegnehmen.« Die Großeltern hätten es geschafft, auch dank der kemalistischen Bildungsoffensive, all ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken; ihre Mutter sei eine der ersten Abiturientinnen der Stadt und auch der Familie gewesen. Dass Shermin bei den Großeltern aufwuchs, habe vor allem daran gelegen, dass es damals in der Türkei kein Netz von Kindergärten gab. Bei den Großeltern war sie gut aufgehoben.
Die Migrationsgeschichte der Eltern, »der Klassiker der ersten Generation«: Man schreibt das Jahr 1971. Die gebildete Mutter lässt sich als Gastarbeiterin in Deutschland anwerben. Der Vater – ein verschuldeter Glücksspieler und Bohemien – hat sie mit dem Versprechen überredet, in Deutschland würde er sich ändern. Sie holt ihn nach, ein Jahr hält er durch, dann entdeckt er auch hier Vergnügungen: Scheidung. Die Schulden zahlt die Mutter allein ab. Morgens putzt sie, nachmittags arbeitet sie bei Grundig, abends pflegt sie die deutsche Oma Desor. Diese, die erste Generation, wollte in Deutschland Geld verdienen, um ihre Familien in der Türkei unterstützen und, wenn sie wieder heimkehren würde, ein eigenes Häuschen bauen zu können. Dass es oft anders kam, war nicht beabsichtigt.
Literarisch, so Shermin Langhoff, habe sich diese Gastarbeitergeneration erstmals Anfang der 70er Jahre mit dem Buch von Aras Ören »Was macht Niyazi in der Naunynstraße« zu Wort gemeldet. Heute, in der Naunynstraße, will Shermin Langhoff den Geschichten ihrer, der zweiten Generation eine Bühne bieten.
Ihre Ankunft in Deutschland, sie war neun, beschreibt sie mit den Worten: »Heidi kommt nach Frankfurt«. Wobei es sich in ihrem Fall nicht um Frankfurt, sondern um Nürnberg handelte, die Stadt, von Adolf Hitler einst »die deutscheste aller deutschen Städte« genannt. Aus einer kleinen Stadt am Meer, in der die Häuser höchstens drei Stockwerke zählten, in die Stadt mit den mächtigen Sandsteinbauten. 1978 war das. Sie besucht einen deutschen Schulhort, lernt Deutsch innerhalb von drei Monaten, »da ich die Einzige war, die Türkisch sprach, blieb mir gar nichts anderes übrig«. Später, auf dem Gymnasium, das sie allerdings nicht beendet, verliebt sie sich in den Deutschlehrer, fängt an zu lesen und zu schreiben, wird in Deutsch sogar Klassenbeste – wie sehr sich ihre Situation von der der dritten Generation unterschied, zeigt ein Blick in Berliner Grundschulen, wo heute mehr als achtzig Prozent der Schüler aus türkischen Familien stammen. Ihre eigene Tochter Rosa Lena Schirin besucht die Freie Waldorfschule in Kreuzberg. »Nicht etwa, weil in den Grundschulen in unserem Einzuggebiet so viele türkische Kinder sind, sondern weil die Schulen überfordert sind, Integrationskonzepte fehlen.«
Das Heidi-Bild mag geeignet sein, eine lebhafte Vorstellung von ihrer ersten Begegnung mit Deutschland zu wecken, doch sich selbst die noch kleine Shermin als Heidi-Schätzchen vorzustellen, fällt schwer. In der Tat: Politisiert von ihrer »kommunistischen Tante Refiye«, wurde schon die Neunjährige Mitglied der »Jungen Pioniere«, später jüngstes Mitglied der illegalen kommunistischen Partei der Türkei. Als Schülersprecherin Mittelfrankens war sie die »Heilige Johanna der Schulhöfe«, die »gro- ße Schulbesetzungsaktionen« organisierte. Auch für sie stand keineswegs fest, dass sie in Deutschland bleiben würde – ein Türkei-Intermezzo scheiterte. Obwohl sie Deutschland nicht »so toll« fand, dass sie dort »unbedingt leben« wollte, habe es ihrer, der zweiten Generation, doch immerhin Chancen eröffnet. »Es war noch eine friedliche Zeit. Es gab noch nicht so viel Verteilungskämpfe. Dafür gab es eine Linke, Multikulti wurde gefeiert mit Menschen, die sich für uns interessierten. Und es gab Mentorenschaft: Talente wurden mitgenommen.«
Shermin Langhoff war ein Talent. Ein Talent, das sich mit achtzehn, unter anderem nach einem DDR-Besuch, von der Politik »verabschiedete«: Lehre als Verlagskauffrau, in der Freizeit Kulturarbeit – sie hat das deutsch-türkische Filmfest gegründet, Brecht- und Hikmet-Abende in mehreren Sprachen ausgerichtet. Nach Jahren im Verlag dann nur noch Kultur: Ausbildung bei der Arbeitsgemeinschaft zur Nachwuchsförderung von Film und Fernsehen, Aufnahme- und Produktionsleiterin bei den Serien »Tatort« und »Doppelter Einsatz«, Tätigkeit beim SFB, freie Regieassistentin bei »Gegen die Wand« und »Crossing the Bridge« von Fatih Akin, Fortbildung zur Kultur- und Medienmanagerin, Zusammenarbeit mit Kanak Attak, die die »Geschichte der Migration auf die großen Bühnen brachten«, Tätigkeit als Kuratorin und Dramaturgin am Hebbel-Theater, wo sie das Festivalformat »Beyond Belonging« entwickelte ...
Im Theater – und nicht nur dort – ist Shermin Langhoff »Quereinsteigerin«. Einsteigerin und nicht Aussteiger wie die dritte Generation. Seit Mölln und Solingen, sagt sie, sei es mit dem Frieden vorbei: Die seit Anfang der 90er Jahre ins Taumeln geratene Ökonomie grenze viele Menschen aus, deutsche und türkische gleichermaßen. Migranten seien nun nicht mehr die, die den Deutschen »die Drecksarbeit abnehmen«, sondern diejenigen, die ihnen »die Arbeit wegnehmen«. Auf dem Rücken der dritten Generation, die kaum noch an der Gesellschaft teilhat und daher auch nicht motiviert ist, werde etwas ausgetragen: »Der Fisch fängt vom Kopf an zu stinken.«
Fatih Akin, den Namen kennt man, hat die Schirmherrhaft für das Eröffnungs-Festival im »Ballhaus« übernommen. Für »Café Europa vs. Dog eat Dog«, bei dem Mehdi Moinzadeh Regie führt, wird ein Ensemble von jungen Schauspielern, türkischer, polnischer, iranischer und deutscher Herkunft auf der Bühne stehen. Allesamt gut ausgebildet, unter ihnen Erdal Yildiz, einer der ersten Deutsch-Türken, die in Film und Fernsehen Erfolge feierten – ein Star in der Migrantenszene. Geschichten vom »Dazwischensein«: pervertierte Beziehungen, Frustration, Wut und Gewalt. Shermin Langhoff »hofft doch sehr«, dass auch ein deutsches Publikum diese Geschichten sehen möchte.
Unter den Premierengästen, so es seine Zeit erlaubt, wird ihr Ehemann Lukas sein, der in Magdeburg inszeniert. Sie, die so viel in sich trägt, und ein Deutscher, wie passt das zusammen? »Auch Lukas«, sagt sie, »trägt viel in sich. Sein Großvater, Wolfgang Langhoff, war einer der Ersten, den die Nazis ins Konzentrationslager steckten. Bei einer Amnestie ein Jahr später kam er frei, er konnte in die Schweiz fliehen. Die Kollegen in Zürich schenkten ihm – Zähne. Obwohl er erst 34 war, hatte er keine Zähne mehr.« Sie überprüft den Sitz des Hütchens. Dann ist der Moment vorbei, da es schien, sie würde weinen.
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