Der Außenseiter

Vor hundert Jahren wurde Golo Mann geboren

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Vater hielt nicht viel von ihm. Erika und Klaus waren ihm näher. Golo ächzte. »Was hatten wir doch für eine elende Kindheit«, schrieb er ins Tagebuch. Da war er zweiundzwanzig und hatte das Schlimmste überstanden. Aber dass er nicht geliebt wurde, schmerzte nach wie vor. Vergessen hat er es nie. Der Vater kommt in seinem Memoirenbuch »Erinnerungen und Gedanken« von 1986 deshalb auch nur gelegentlich, eher beiläufig vor, eine Respektsperson, mit der nicht zu spaßen war, berühmt, jähzornig, reizbar, überlebensgroß. In früher Jugend, berichtete Golo, »war er mir majestätisch und fremd erschienen; erst als ich etwa fünfundzwanzig Jahre alt war, kam ich ihm etwas näher. Dass er damals mich zu schätzen begann, erfuhr ich zuerst aus den Tagebüchern, mit etwas Beschämung«.

Er musste alt werden, um über Thomas Mann gelassen und ohne Ressentiment sprechen zu können. »Als Kind«, schrieb er 1986, »konnte ich nicht wissen, warum er oft so sehr abgespannt und müde und manchmal wie fremd war, wenn er aus seinem Arbeitszimmer trat«. Dann war Mann mit einer Arbeit stecken geblieben, und die tiefe Verstimmtheit teilte sich allen mit, die um ihn waren. Golos Text, mit knapp zwanzig Druckseiten die ausführlichste Äußerung, die wir von ihm über den Vater besitzen, steht in einem gerade erschienenen Band, der noch einmal kürzere, verstreut publizierte Arbeiten sammelt, Erzählungen, Essays zur Politik und Zeitgeschichte und, im Zentrum, einige Familienporträts, Erinnerungen an die Mutter, an Erika und Klaus, an Heinrich Mann und das Verhältnis der Brüder zueinander.

»Man muss über sich selbst schreiben« heißt das Buch, das Tilmann Lahme im S. Fischer Verlag herausgab und das Hans-Martin Gauger mit einem schönen, aufschlussreichen Aufsatz über Golo Mann beschließt. Lahme, 34jähriger FAZ-Redakteur, der 2006 bereits die Briefe des Autors edierte, ist einer der besten Kenner dieses lebhaften, hochgebildeten und, wie Gauger sagt, auf altmodische, beinah skurrile Weise höflichen Menschen. Was er über ihn, seine Leiden und Erfolge, seine Homosexualität, seine Zerwürfnisse und Intentionen, sein Werk weiß, steht jetzt in einer großen, klugen Biografie, die ebenfalls bei S. Fischer erschien. Ein Buch von respektablem Umfang, die zweite Lebensbeschreibung nach der Studie des Schweizer Historikers Urs Bitterli von 2004, souverän erzählt, mit vielen unbekannten Details gespickt, die der Autor in amerikanischen, europäischen und privaten Archiven entdeckte.

Golo, geboren am 27. März 1909, stand im Schatten seiner älteren Geschwister. Erika und Klaus zogen, unzertrennlich wie ein Zwillingspaar, durch die Welt und verursachten Skandale, und die Presse war immer dabei. Er, nie so selbstbewusst, blieb lange im Hintergrund. Er mochte weder Spektakel noch das Blitzlichtgewitter der Fotografen. Spät, erst im US-Exil, wagte er sich an ein Buchprojekt. Er lebte, nach der Flucht vor den Nazis, der Lagerhaft in Frankreich und der strapaziösen Überquerung der Pyrenäen an der Seite seines Onkels Heinrich, aus Geldnot wieder im Haus der Vaters und schrieb an einer Studie über den Publizisten und Diplomaten Friedrich von Gentz. Abends las er gelegentlich daraus vor – zu seiner Überraschung äußerte Thomas Mann Wohlwollen, Lob. Es war, als sei ein Fluch von ihm genommen. Der Vater bemühte sich auch, dank seiner Beziehungen, seinem Sohn eine akademische Karriere in den USA zu ermöglichen. »Ich halte«, schrieb er im Frühjahr 1941 an einen Professor der Yale-Universität, »viel auf den Jungen, der eine sehr gründliche philosophische, historische und literarische Bildung besitzt«. Golo musste sich freilich bis Juni 1942 in Geduld üben. Dann endlich bekam er eine Stelle als Dozent an einem College in Michigan.

Im Warten war er geübt. Auch das fertige Gentz-Manuskript sollte so rasch kein Buch werden. Es erschien erst 1946. Da lebte Golo Mann bereits als US-Soldat in Frankfurt/Main, zensierte das Programm des Rundfunks und suchte nach einem Einstieg in den Universitätsbetrieb. »Sie sind ein Schriftsteller«, meinte sein Heidelberger Lehrer Karl Jaspers, als er Golos Debüt gelesen hatte, »aber, wie gehörig, auf dem Grund bester Sachkunde und reifen Erwägens«. Das Buch sei glänzend geschrieben, meinten auch Historiker. Theodor Schieder indes, in Köln auf dem Stuhl, den Golo Mann angestrebt hatte, sprach von »unausbleiblicher Emigranten-Malaise«. Die Zunft wehrte sich.

Die Anschaulichkeit dieser Prosa, verbunden mit der Abneigung gegen die theoretische Begriffssprache der Wissenschaft, machte ihn verdächtig. Ein Historiker als Erzähler, als fesselnder Vermittler geschichtlicher Abläufe und Figuren war der Fachwelt suspekt. Sie mied den Außenseiter. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die Begründer der Frankfurter Schule, gingen 1963 sogar so weit, die Berufung an die Universität in Frankfurt am Main perfide zu hintertreiben. Er sei ein »heimlicher Antisemit«, ließen sie verbreiten. Hintergrund dieser »Lumperei«, die Golo auch 1989 nicht vergessen hatte, waren natürlich tiefe ideologische Differenzen.

Tilmann Lahme zeichnet das Bild eines Mannes, der einen berühmten Namen trug, sich aber immer wieder mühsam durchbeißen musste. Das Exil blieb ihm Fremde; als er zurückkam, traf ihn die im Westen weitverbreitete Ablehnung der Emigranten, denen man vorwarf, den Krieg aus der Loge verfolgt zu haben. Er passte in kein Schubfach. Er war Verfasser einer fesselnden Wallenstein-Biografie und einer frischen, ungewöhnlich farbigen »Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«. Er porträtierte Kennedy und de Gaulle, schätzte Adenauer und unterstützte Willy Brandts Ostpolitik. Aber er engagierte sich auch für Franz Josef Strauß. 1964 verteidigte er in einem großen Essay (»Mit den Polen Frieden machen«) die Oder-Neiße-Grenze. »Wir waren mit dem schönen, weiten Reich von 1914 nicht zufrieden«, heißt es am Schluss, »und haben die Grenzen von 1937 bekommen. Wir waren mit den Grenzen von 1937 nicht zufrieden und haben die Grenzen von 1945 bekommen. Wo würden das nächste Mal Deutschlands Grenzen liegen?«

Mit seinem Vater haderte Golo noch manches Mal (auch mit der streitlustigen, rechthaberischen Mutter, mit der er noch lange im Kilchberger Haus lebte), doch gegen Angriffe und Kritik nahm er ihn entschlossen in Schutz. Liebe ist es nicht mehr geworden, wohl aber Hochachtung und Respekt.

Golo Mann: »Man muss über sich selbst schreiben«. Erzählungen, Familienporträts, Essays. Hg. von Tilmann Lahme. 275 S., geb.,19,95 EUR.
Tilmann Lahme: Golo Mann. Biographie. 553 S., geb., 24,95 EUR.
Beide im S. Fischer Verlag.

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