Wilmersdorfer Witwen leben länger
Gesundheitsexperten debattierten auf Einladung der LINKEN über Zwei-Klassen-Medizin
Jörg-Dietrich Hoppe hat kürzlich gesehen, was Zwei-Klassen-Medizin wirklich heißt. Der Präsident der Bundesärztekammer schaute sich in Moskau zwei Polikliniken an, die nebeneinander lagen und unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die eine entsprach einer Einrichtung, wie wir sie aus Deutschland kennen und in der anderen waren die Geräte veraltet und die Sterilisatoren verrostet. Wer es sich leisten könne, gehe in die bessere. Das, so sagte Hoppe am Montag auf der von der LINKEN im Bundestag organisierten Veranstaltung »IMPULS – eine neue Idee für die Gesundheit«, sei Zwei-Klassen-Medizin, die in dieser exzessiven Form in Deutschland nicht existiere.
Nach Ansicht des Ärztefunktionärs Hoppe wird das, was das Gesundheitssystem an medizinischen Leistungen bereithalte, in derselben Qualität an alle Patienten geliefert, egal in welcher Krankenversicherung sie seien. Es gebe keine Unterschiede im Arzt-Patienten-Verhältnis, keine in der Behandlung und keine in der Qualität der ärztlichen Leistungen. Unterschiede sieht Hoppe lediglich im Komfort. Seinem Empfinden widerspricht allerdings eine Untersuchung des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen aus dem Sommer 2008, die Patienten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bereits bei der Terminvergabe im Abseits sieht. Sie warteten im Schnitt 28 Tage auf einen Termin, Privatversicherte nur 12 Tage – auch ohne akute Beschwerden.
Hoppes Vorgänger im Amt, Ellis Huber, sieht beträchtliche Unterschiede in der Gesundheit zwischen den Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten. Er nannte ein Beispiel aus Berlin, wo die Lebenserwartung im gutbürgerlichen Zehlendorf sieben Jahre höher sei als in Friedrichshain- Kreuzberg. Fahren Sie in der U-Bahn von Zehlendorf zur Warschauer Straße, verringert sich die Lebenserwartung an jeder Station um zwei bis vier Monate, erklärte Huber, der sich als Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Präventologen dafür engagiert, Menschen mit Gesundheitskompetenz auszustatten. Dies geschehe leider nicht dort, wo es am meisten gebraucht werde.
Auch Rolf Rosenbrock vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin findet, dass Menschen mit geringer Kaufkraft die größten Probleme im Gesundheitssystem haben, auch wenn er der GKV im internationalen Vergleich ein sehr hohes Niveau bescheinigt. Er sieht GKV-Patienten im Nachteil, weil sie länger auf Termine warten müssen. Arme gingen wegen der Zuzahlungen nicht zum Arzt. Viele Unversicherte, beispielsweise Migranten, hätten gar keinen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung. Auch die Desease Management Programme – eingeführt, um chronisch Kranken eine qualitätsgerechte Behandlung zu garantieren – scheinen nicht bei allen Patienten die gleiche Wirkung zu entfalten. Von 20 000 jährlichen Fußamputationen infolge von Diabetes seien überdurchschnittlich viele Patienten aus den ärmeren Schichten der Bevölkerung betroffen, so Rosenbrock.
Ginge es nach der LINKEN, würden Praxisgebühren und Zuzahlungen abgeschafft. Anstelle von GKV und PKV träte eine Bürgerversicherung und die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens würde gestoppt. Im Wahlkampf soll die Umgestaltung des Gesundheitssystems thematisiert werden.
Zwei-Klasse-Medizin
»Wir haben in Deutschland eine lupenreine Zwei-Klassen-Medizin, die den Wohlhabenden, also den privat Versicherten, nützt. Das ist mehr als ungerecht. Die Gesellschaft bildet auf Allgemeinkosten die Top-Mediziner aus, stellt ihnen Top-Kliniken zur Verfügung, aber diese Mediziner behandeln dann fast ausschließlich Privatpatienten, während jene, die dieses System finanzieren, oft von übermüdeten und überlasteten Ärzten behandelt werden.«
(Prof. Karl Lauterbach, Wissenschaftler und Gesundheitsexperte der SPD, im Interview mit dem STERN 2003)
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