Wer A sagt, der muss nicht B sagen
Es ist nicht neu, dass die Besatzer und ihre Apologeten für ihre militärische Präsenz am Hindukusch und ihren Krieg eine Legitimation suchen. Schon die Kolonialmächte wollten angeblich die »unterentwickelten« Völker kultivieren, später sollten die christlichen Missionare geschützt werden und dann die europäischen Händler. So versteckten sie ihre wahren Absichten.
In Afghanistan sollten die zuvor von den USA an die Macht gebrachten extremistischen Taliban beseitigt werden, weil sie dem Al Qaida-Führer Osama bin Laden das Gastrecht eingeräumt hatten und die Frauen unterdrückten. Die USA haben Bin Laden immer noch nicht gefunden oder nicht finden wollen. Auch die afghanischen Frauen sind nicht befreit, außer einer Handvoll Ameriko- und Euro-Afghaninnen. Im Gegenteil: Afghanistan ist seit der Besetzung zum größten Bordell Mittelasiens geworden.
Fakt ist jedoch, was lange verschwiegen wurde, aber mittlerweile von Ex-Präsident Bill Clinton öffentlich gemacht, dass auch er schon einen Krieg gegen Afghanistan geplant hat. Und der ehemalige pakistanische Außenminister Niaz Naik plauderte aus, dass die Bush-Administration schon im Juni 2001 seine Regierung über einen Krieg gegen Afghanistan informiert hatte. Der US-Regierung ging es um die Umsetzung der »Greater Middle East Initiative« (GMEI) der Neocons um George W. Bush und Dick Cheney, die gesamte Region von Nordafrika bis Bangladesch unter die Kontrolle der nun als einzig verbliebenen Weltmacht zu bringen. Außerdem sollten im Auftrag der US-Firma Unocal und der saudischen Deltaöl Bedingungen für die Durchführung einer Pipeline von Mittelasien über Afghanistan nach Südasien geschaffen werden. Der 11. September 2001 bot den willkommenen Anlass dafür. Hätte es ihn nichtgegeben, hätte er erfunden werden müssen.
Seit 2001 ist Afghanistan zu einem Militärprotektorat und einem unsinkbaren Flugzeugträger der USA und der NATO degradiert. Von hier aus können unter Umständen weitere Kriege geführt werden. Pakistan wird schon seit einiger Zeit permanent von US-Drohnen bombardiert. Das Land steht nicht mehr am Rande eines, sondern bereits mitten im Krieg. Barack Obama hat Präsident Asif Ali Zardari in Anwesenheit von Karsai am 6.5.2009 in Washington angedroht, entweder macht Ihr den Krieg gegen die Aufständischen in den afghanisch-pakistanischen Grenzregionen, ansonsten kommen wir.
Die 2001 vertriebenen Taliban sind als Widerstandsbewegung wieder da. Und nicht nur sie, nach UNO-Angaben kämpfen längst 2200 verschiedene Gruppen gegen die Besatzer. Sie kontrollieren bereits Teile des Landes, vor allem im Süden und Osten Afghanistans. Im Norden befindet sich die Bundeswehr in einem unerklärten Krieg mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten.
Die NATO ist nicht in der Lage, das Problem annähernd lösen zu können, weil sie selbst Teil des Problems geworden ist! Sie schützt das Karsai-Regime in Kabul, aber durch ihre Präsenz delegitimiert sie dieses auch. Die Bevölkerung nimmt Hamid Karsai, der verächtlich als Bürgermeister von Kabul bezeichnet wird, nur als Marionette des Westens wahr. Seine ganze Familie ist völlig diskreditiert. Sein Brüder Ahmad Wali Karsai, der dem Rat der Provinz Kandahar vorsitzt, kassiert jährlich 20 Millionen US-Dollar Schutzgelder von Drogenhändlern. Die Ablösung von Karsai würde von der Mehrheit der Bevölkerung mit Freude aufgenommen werden. In den letzten acht Jahren hat er für die Afghanen nichts getan, im Gegenteil. Durch die Politik der offenen Tür hat er die Grundlagen der afghanischen Nationalökonomie zerstört. Erst seit 2001 wurde der Drogenanbau in allen 32 Provinzen des Landes unter den Augen der NATO ausgeweitet. Zuvor waren nur im Osten und Süden des Landes Mohnfelder anzutreffen. Die größte Leistung Karsais besteht darin, Afghanistan zu einem US- und NATO-Militärprotektorat gemacht zu haben.
Ein sofortiger Abzug der NATO-Einheiten und die Wiederherstellung der Souveränität Afghanistans sind die Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung am Hindukusch. Der beste und einzig gangbare Weg zur Befriedung Afghanistans wäre die Bildung einer wirklich repräsentativen Regierung in Afghanistan und eben nicht irgendwo im Ausland. Wir brauchen auch kein »zweites Petersberg«, wie manche westdeutschen Politiker ins Gespräch brachten, sondern ein »erstes Afghanistan«. Unter strengster Kontrolle nicht durch die am Krieg beteiligten Nationen, sondern der 118 Blockfreien Staaten, der aus 57 Mitgliedern bestehenden Konferenz der Islamischen Staaten, der internationalen Gewerkschaften, von Friedens-, Frauen- und Studentenorganisationen sollten Wahlen für eine Loya Jirga (Ratversammlung) durchgeführt und auf dieser repräsentativen Versammlung eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung einer Verfassung sowie von Parteien- und Wahlgesetzen gewählt werden. Eine Regierung, vom Volk gewählt, hätte auch in Kabul kaum etwas zu befürchten. Im schlimmsten Fall sollte, wenn für kurze Zeit Militärschutz benötigt würde, eine International Security Assistance Force ausschließlich aus Staaten kommen, denen das Land nahe steht, wie den Blockfreien und den islamischen Staaten. Bekanntlich gehört Afghanistan zu den Gründungsmitgliedern beider Staatengruppen. Damit wäre auch dem islamistischen Widerstand der Wind aus den Segeln genommen, denn Afghanistan wäre dann nicht von »ungläubigen Christen« und dem »großen Satan« besetzt.
Der NATO-Krieg am Hindukusch dauert jetzt schon länger als der Zweite Weltkrieg, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Die NATO bombardiert in Afghanistan flächendeckend, wobei viele Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder getötet sowie die Infrastruktur, ganze Dörfer mitsamt Moscheen zerstört werden, was wiederum zur Stärkung des Widerstands führt. Nach westlichen Angaben sollen seit 2001 etwa 6000 Menschen getötet worden sein. Die Afghanen vor Ort gehen jedoch von über 50 000 Toten aus. Die Eskalation des Krieges seit der Amtsübernahme Obamas wird zu noch mehr Toten und weiterer Zerstörung führen.
Mit »Durchhalte«- und »Kurshalte«-Parolen sowie noch mehr Militär, wie der frühere UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, verlangte, wird es in Afghanistan jedenfalls weder Frieden noch Wiederaufbau, geschweige denn ein »nation-buil-ding« geben, die Geschichte Afghanistan bestätigt dies eindrucksvoll. »Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.« Diese Erkenntnis Bertolt Brechts muss die politische und militärische Klasse der NATO-Länder beherzigen und die Fehler ihres Afghanistanabenteuers korrigieren.
Dr. Matin Baraki, 1947 in Schina bei Kabul/Afghanistan geboren, lehrt internationale Politik am Institut für Politische Wissenschaften, am Zentrum Naher und Mittlerer Osten und am Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Buchveröffentlichungen: »Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1978« und »Kampffeld Naher und Mittlerer Osten«.
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