Fünf Zähne weniger
Proteste gegen Polizeiwillkür nach Übergriff auf St.Pauli-Anhänger
St. Pauli-Fans und HSV-Anhänger, die gemeinsam durch die Straßen auf dem Kiez ziehen – am Freitagabend kam es anlässlich einer Demonstration gegen Polizeigewalt zu ungewohnten Bildern. Etwa 3500 Anhänger demonstrierten gegen Übergriffe der Polizei, von denen nach Ansicht der Demonstranten gerade Fußballfans in jüngster Zeit besonders betroffen sind.
Die Proteste ausgelöst hat ein Vorfall in der Nacht vom 4. auf den 5. Juli in Hamburg. Während es im Anschluss an das alternative Schanzenfest zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Randalierern kam, fand in der benachbarten St. Paulianer Fan-Kneipe »Jolly Roger« eine Geburtstagsfeier statt. Kurz vor drei Uhr sprühten angerückte Polizisten Reizgas in die Kneipe und versuchten anschließend unter Schlagstockeinsatz die Räumung, weil – so die inzwischen fallen gelassene Begründung – Steinewerfer sich dort verschanzt hätten. Zahlreiche Verletzte waren die Folge, Festnahmen fanden keine statt.
Als eine Polizeieinheit wenig später an der Gaststätte vorbeizog, erhielt der FC-Fan und Journalist Sven Klein einen Hieb mit dem Schlagstock ins Gesicht. Neben Prellungen und einer Risswunde an der Lippe erlitt Klein den Verlust seiner vier oberen Schneidezähne und eines Eckzahns. Ein psychologisches Attest weist als Folge des Übergriffs Schlafstörungen und Panikattacken aus.
Seitdem wird diskutiert, ob der Schlagstockhieb möglicherweise ein Racheakt aus den Reihen der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Eutin war. Ein Beamter dieser Einheit war nach einem Fußballspiel von St. Pauli im März schwer verletzt worden. St. Pauli-Fans beklagten sich wiederum über einen unverhältnismäßigen Einsatz der Eutiner Polizisten in Kiel im Juni. Wem Sven Klein sein lädiertes Gebiss zu verdanken hat, bleibt jedoch unklar. Eine Woche lang konnte er nur Suppen essen, erzählt der langjährige Anhänger: »Danach habe ich mich auf das erste selbst gemachte Kräuterkartoffelpüree gefreut wie noch nie.«
Noch größere Freude bewirkte die Welle der Solidarität, die seitdem eingesetzt hat. Nach nur zwei Wochen waren auf dem Spendenkonto, das für die Geschädigten eingerichtet wurde, 9 600 Euro eingegangen. »Als ich diese Summe hörte, fing ich erstmal an zu weinen«, schildert Klein und verweist auf die inoffizielle Vereinshymne: »Diese Szene kann stolz auf sich sein. Ich weiß jetzt, was ›You’ll never walk alone‹ bedeutet.« Auch viele HSV-Fans überwiesen 18,87 Euro – ein Hinweis auf das Gründungsjahr des Rivalen.
Auch der Klub übt sich im Schulterschluss. Vorgestern fand ein Solidaritätskonzert statt, auf dem die beiden St. Pauli-Profis Marcel Eger und Benedikt Pliquett als DJs für Stimmung sorgten. Präsidium und Aufsichtsrat des Vereins verlangen »lückenlose Aufklärung« von der Polizei. Die Abteilung Fördernde Mitglieder, größte Abteilung im FC St. Pauli, fordert unter anderem die »individuelle Kennzeichnungspflicht für alle Polizeibeamten« sowie die »Wiedereinrichtung einer unabhängigen Untersuchungsinstanz für rechtswidriges Polizeihandeln«. Die Vorwürfe gegen die eingesetzten Beamten werden derzeit vom Dezernat Interne Ermittlungen überprüft, das nach Ansicht von Kritikern keine objektive Perspektive einnimmt.
Am 12. September soll eine Neuauflage des Schanzenfestes stattfinden. Ob die Atmosphäre dann so friedlich sein wird wie auf der Fan-Demo am Freitag oder es zu neuen Ausschreitungen kommt, ist ungewiss. Sven Klein wird dann allerdings nicht in Hamburg sein, sondern im niedersächsischen Schneverdingen, um aus seinem Buch »St. Pauli ist die einzige Möglichkeit« zu lesen. Mit provisorischem Zahnersatz.
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