Wenn das Leiden des Einzelnen für die Weltgeschichte nichts gilt ...
Was uns Dostojewskis Hassliebe zu Europa heute erzählen kann – ein Bericht vom Rande der Welt
Jeder für sich, alle gegen dich und Gott für alle. Daraus folgt natürlich, daß dem Menschen nur eine geringe Hoffnung bleibt.
FJODOR DOSTOJEWSKI
Man kennt die Geschichte von Dostojewskis Hinrichtung im Jahre 1849. Er war wegen seiner Nähe zum Sozialrevolutionär Petraschewski und seinem Kreis zum Tode verurteilt worden: »Heute am 22. Dezember, hat man uns auf den Semjonow-Platz geführt. Dort wurde uns das Todesurteil verlesen. Man ließ die Gewehre anlegen, brach die Stäbe über unseren Häuptern und legte uns die Totenkleider (weiße Hemden) an. Danach wurden drei von uns zur Vollstreckung des Urteils an den Pfahl gestellt ... Plötzlich wurde zur Einstellung des Schießbefehls getrommelt, man führte die an den Pfahl Gebundenen zurück, und uns wurde verlesen, daß seine kaiserliche Hoheit geruht, uns das Leben zu schenken.«
Die Hinrichtung fällt aus? Nicht ganz, denn etwas in Dostojewski bleibt danach abgestorben. Er fühlt sich als Bewohner eines Totenhauses, nicht nur während der Zeit seiner vierjährigen Zwangsarbeit in der Festung Omsk und der Jahre als Soldat in Semipalatinsk, auch danach. (Moderate Urteile übrigens, gemäßigtes 19. Jahrhundert, das noch eine Vorstellung von der Individualität jedes Einzelnen hatte, verglichen mit Stalins anonymer Mordmaschinerie und dem Gulag-System.)
Aber Dostojewski verliert den Glauben an die Zivilisation, an die sozialen Bewegungen des Westens und das aufklärerische Menschenbild. Er sieht sich auf das Ureigenste des russischen Riesenreiches zurückgeworfen: Sibirien. Der Rand weitet sich hier zu einer Lebensform, von dem das Zentrum keine Vorstellung hat.
Es bedurfte nicht erst einer Scheinhinrichtung und der Verbannung nach Sibirien, um Dostojewski am hehren Idealismus, besonders dem der Deutschen zweifeln zu lassen. Er las schon als Jugendlicher Schiller und E.T.A. Hoffmann auf Russisch ebenso wie auf Deutsch – und was der Achtzehnjährige am 9. August1838 an seinen Bruder Michail schreibt, das arbeitet lebenslang in ihm: »Ich habe ein Projekt: den Verstand zu verlieren. – Mögen die Leute in Wut geraten, mögen sie mich heilen und mich vernünftig machen.«
Ein elementares Freiheitsgefühl. Was liegt da näher, als sich mit dem Denker zu befassen, der die Freiheit zur Wirklichkeit zu bringen verspricht? Hegel, der Universalist, der Weltgeistdenker.
Diese Lektüre-Szenerie inspirierte Lászlo F. Földenyi zu einem Essay mit dem wundervoll barocken Titel »Dostojewski liest in Sibirien Hegel und bricht in Tränen aus«. Eine europäische Denkschrift aus der Sicht des Osteuropäers. Mit dem wiedergefundenen Selbstbewusstsein des Randes stellt der Budapester Philosoph dem verwestlichten Europa seine Diagnose: Die Erosion der Mitte tritt ins finale Stadium. Der Rand, das Abseits rücken nun selbst in Zentrum.
Den Verstand zu verlieren ist nicht schwer, weiß man, dass das eigene Leiden für die Weltgeschichte im Sinne Hegels gar nicht existiert. Mehr als 150 000 – zumeist aus politischen Gründen – Verbannte lebten Mitte des 19. Jahrhunderts in Sibirien. Omsk mit seiner Festung ist eine öde Garnisonsstadt. Gottverlassen. Diese Abwesenheit Gottes wird Dostojewskis mehr und mehr zum Thema, als er 1854 zuerst als einfacher Soldat nach Semipalatinsk kommt, fast schon in der sibirischen Steppe gelegen. Dort freundet er sich mit dem örtlichen Staatsanwalt an, dem einundzwanzigjährigen Alexander Jegorowitsch Wrangel. Dieser ist auf die Augsburger Allgemeine Zeitung abonniert, und gemeinsam lesen sie auch Hegel. Dostojewski weiß nun also, wo er sich aus Weltgeistperspektive befindet: »Jenseits der Betrachtung«.
Das Paradox: Er war für die Ideen Europas zum Tode verurteilt worden, saß nun für ein volles Jahrzehnt in Sibirien fest, aber dieses Europa, das er propagiert hatte, nimmt den Ort des Schreckens nicht nur nicht wahr, sondern tilgt ihn sogar aus aus seinem Gedächtnis, der Landkarte der Zivilisation. Nein, dies ist nicht der Fortgang der Geschichte im wachsenden Bewusstsein der Freiheit, wie ihn Hegel annimmt, sondern quälender Stillstand. Unfreiheit wie für die Ewigkeit gemacht, so dass Dostojewski hier nur eines schreiben kann: »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«. Und dabei dämmert ihm etwas, das seine Weltkoordinaten völlig verändern wird: die Erfahrung vom Rande, an den unweigerlich gerät, wer sich gegen die herrschenden Gedanken einer Zeit stellt.
Sein Blick auf die Geschichte resultiert durchaus aus intensiver Beschäftigung mit den verschiedenen Arten, sie zu beschreiben. So übermittelt er seinem Bruder Michail am 22. Februar 1854 aus Omsk, nachdem seine Zeit als Kettensträfling – eine fünf Kilo schwere Kette war ihm am Heiligabend 1849 um seine Fußgelenke geschmiedet worden – zu Ende gegangen ist und er vor seiner Verlegung nach Semipalatinsk steht: »Mir fehlen (und sie sind außerordentlich wichtig) die antiken Geschichtsschreiber (in französischer Übersetzung) und die neueren wie Vico, Guizot, Thierry, Thiers, Ranke usw., die Ökonomisten und Kirchenväter. Nimm die billigsten und stabilsten Ausgaben und schicke sie unverzüglich ... Doch mußt Du wissen, Bruder, die Bücher sind für mich Leben und Nahrung, in ihnen liegt meine Zukunft! ... Schicke mir den Koran, die ›Critik de raison pure‹ von Kant, und wenn Du mir etwas inoffiziell schicken kannst, dann Hegel, insbesondere seine ›Geschichte der Philosophie‹. Damit ist mein ganzes künftiges Schaffen verbunden! Einen Begriff vom Leben kann Hegel nur erlangen, indem er sich über dessen Zufälligkeit, über Krankheit, Schmerz und Tod des Einzelnen erhebt. Etwas, das sich dem Zugriff der Vernunft entzieht, kann Hegel nicht anerkennen. Die Geschichte aber ist wie die Natur wenig vernünftig.«
*
Im »Tagebuch eines Schriftstellers« heißt es im Abschnitt »Geständnisse eines Slawophilen«: »Ich habe in vieler Hinsicht rein slawophile Überzeugungen, obschon ich vielleicht nicht vollends Slawophile bin ...« Für ihn bedeute das Slawophile, »daß unser großes Rußland an der Spitze der vereinten Slawen der ganzen Welt, der ganzen europäischen Menschheit und ihrer Zivilisation sein neues, gesundes und von der Welt noch ungehörtes Wort sagen wird.«
Doch vergessen sind sie nicht, die Dekabristen, die Petraschewzen, Belinski und Herzen. Dostojewski verleugnet weder seine Ablehnung der Leibeigenschaft noch seine Zensur-Verachtung. Sein Vater war von den eigenen Leibeigenen ermordet worden, als er gerade siebzehn war – und er weiß, die Ursache dafür liegt auch in den unmenschlichen Zuständen einer solchen Unfreiheit. Und wofür hatte man ihn, den Autor von »Arme Leute«, im Leutnantsrang stehend, denn zum Tode verurteilt? Die Urteilsbegründung lautet: »Das Militärgericht befindet den Angeklagten Dostojewski insoweit für schuldig, als er nach Erhalt der Kopie eines verderblichen Briefes, geschrieben von dem Literaten Belinski ... im Märze dieses Jahres aus Moskau diesen Brief in Versammlungen vorgelesen hat ... Das Militärgericht hat deshalb den Ingenieur-Leutnant a. D. Dostojewski wegen Unterlassung einer Berichterstattung über die Verbreitung des religions- und regierungsfeindlichen Briefes des Literaten Belinski ... unter Aberkennung des militärischen Ranges und aller Vermögensrechte zum Tode durch Erschießen verurteilt.« Beinahe also hätte es das Werk Dostojewskis gar nicht gegeben. Dass wir es doch besitzen, dafür ist einer verantwortlich, von dem man das kaum erwartet hat: Zar Nikolaus I. Er begnadigt die Verurteilten (sämtlich Offiziere und Adlige).
1859 jedoch, als er aus gesundheitlichen Gründen (er hat Epilepsie) um seine Entlassung aus der Armee bittet, ist er bereits wieder Offizier. Glück gehabt. Die Zeiten in Russland ändern sich gerade. Die Demokraten nach westlichem Vorbild werden stärker und fordern die Achtung der Menschenrechte, wie sie die französische Revolution proklamierte. Die Leibeigenschaft wird abgeschafft. Als die Anarchistin Vera Sassulitsch 1878 auf den Stadthauptmann von Petersburg schießt, weil dieser einen politischen Gefangenen hatte auspeitschen lassen, spricht ein Geschworenengericht sie frei. Es herrscht so etwas wie Freiheitseuphorie. Die geistige Elite Rußlands blickt nach Deutschland und Frankreich, will das rückständige Rußland den westlichen Zivilisations-Standards anpassen. Und nun stellt sich Dostojewski auf die Seite der Slawophilen und damit gegen seine alte Freunde. Warum, aus Opportunismus, weil er gebrochen ist? Im Gegenteil: aus Erfahrung.
Die Jahre 1869 bis 1871 lebt er in Dresden, schreibt dort seine »Dämonen«. Er fühlt sich wie im Exil – und sein Blick auf Europa ist anders geworden, ernüchtert. Lieber verbannt nach Sibirien als in Florenz oder Genf festzusitzen!, stöhnt er. Anders als Turgenjew, dem Dostojewski vorwirft, er sei dabei, ein Deutscher zu werden, richtet Dostojewski seinen Blick wieder auf das, was für ihn zur Heimat gehört: das Starzentum der orthodoxen Kirche.
Die Welt-Weisheit der Alten ist mehr als bloßes Weltwissen. Was für eine furchtbare Zerrissenheit herrscht doch in der russischen Seele! Immer zur einen Hälfte Europäer zu sein und zu anderen schon zu Asien zu gehören! Hier, so ahnt Dostojewski, existiert etwas, das dem westlichen Europa fehlt und das nur Russland ihm bringen kann. Die Gottesfrage steht dabei im Zentrum. Er weiß, die Aufklärung und die Zivilisation, die sie heraufführt, ist nicht rückgängig zu machen. Das darf es auch nicht – sonst drohen bald neue Glaubenskriege. Der alte Gott ist tot, mit ihm der Aberglaube, der aus Unwissenheit kam. Die Vertröstung der Unterdrückten aufs Jenseits – endlich vorbei.
Nietzsche erkannte in Dostojewski den Psychologen eines kommenden Zeitalters, wusste, die Frage nach Gott stirbt nicht. Gerade, weil er nicht existiert, brauchen wir ihn. Die Mystik, die sich im Spätwerk Dostojewskis zeigt, lebt vom Paradox: Glaube kann die Skepsis nicht aus der Welt schaffen – und umgekehrt die Skepsis den Glauben nicht. Er plant ein großangelegtes Buch, das sein Vermächtnis werden soll: »Der Atheismus«. Als es 1879 erscheint, trägt es den Titel »Die Brüder Karamasow«. Mit ihm sind wir bis heute nicht fertiggeworden.
*
Er bleibt ein Slawophiler auf Widerruf. Jedes Jahr verbringt er, auch nach seiner Rückkehr nach Petersburg, sobald er das Geld zusammen hat, mehrere Monate im Jahr in Deutschland, fährt zur Kur in Bad Ems. Er, der notorische Spieler, hatte in Wiesbaden bereits sein ganzes Geld verspielt, es wird nicht das einzige Mal bleiben, sogar die Kleider seiner Frau setzt er – und verliert. Dies also ist einer, den man nicht über die quälenden Widersprüche, aus denen der Mensch gemacht ist, belehren muss. Und wie der Einzelne den Widerspruch in sich trägt, zugleich ein triebhaft-barbarisches und ein vernunfthaft-zivilisiertes Wesen zu sein, so auch ganze Gemeinschaften. Eines ohne das andere, darin ist sich Dostojewski gewiss, wäre fatal. Er hat den Kontinent der Körper und Seelen, ihrer Tränen und ihres Lachens im Blick, etwas, wofür Hegel blind ist. Es ist der Blick einer Wahrheit, die aus dem Schmerz kommt, ein Blick vom Rande, ein Blick der Außenseiter.
Die Unerträglichkeit feudaler Zustände (vor allem die Leibeigenschaft!) hatte ihn an die Seite der Sozialrevolutionäre gebracht. Aber von etwas befreit zu sein genügt nicht, um Mensch zu sein. Das erfährt er nun während seiner Reisen durch die Schweiz, Italien und Deutschland. Die Deutschen, schreibt er, hätten ihm die Nerven ruiniert. Dostowjewski verliert in Dresden seine letzten Illusionen über Aufklärung und Rationalität. Er bleibt dabei ein Feind jedes Fanatismus, jeder triumphierenden Geschichtsauffassung: »Ich verstehe unter Wirklichkeit und Realismus etwas ganz anderes als unsere Realisten und Kritiker. Mein Idealismus ist realistischer als der ihre. Mein Gott! Wollte ich nur das erzählen, was wir alle, wir Russen, in den letzten 10 Jahren in unserer geistigen Entwicklung erlebt haben, wie schrien dann die Realisten, das sei reine Phantasie! Gerade das ist Realismus, und zwar ein tiefer, während bei ihnen alles an der Oberfläche bleibt.«
Lázló F. Földényi, Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus. Matthes & Seitz Berlin, 61 S., 9,90 Euro.
Dies also ist einer, den man nicht über die quälenden Widersprüche belehren muss, aus denen der Mensch gemacht ist. Und wie der Einzelne jenen Widerspruch in sich trägt, zugleich ein triebhaft-barbarisches und ein vernunfthaft-zivilisiertes Wesen zu sein, so tragen auch ganze Gemeinschaften diesen Widerspruch in sich.
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