Krähen im Niemandsland

Wiederentdeckt: »Grenzdurchbruch 89«, ein Film von Matthias-Joachim Blochwitz

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Achtunddreißig Minuten Film über die Maueröffnung machen Furore. Und das, obwohl wir davon so bildübersättigt sind. Oder gerade deshalb? Aber es sind ja immer die gleichen Bilder: Jubelmassen auf dem Weg von der Diktatur in die Demokratie, aus dem Mangel in »Konsum« und »HO« direkt hinein in den Überfluss der Konsum-Welt. Selten wohl fühlte sich ein Staatswesen so geschmeichelt wie die Bundesrepublik, als ihm Massen von DDR-Bürgern entgegendrängten.

Nun aber sehen wir in Matthias-Joachim Blochwitz' »Grenzdurchbruch 89« andere Bilder: die der Geschockten, der Konsternierten, der Hilflosen und Orientierung Suchenden, soll man sagen: der Besiegten? Oder eher der gegen ihren Willen Befreiten? Wir hören, was in diesen Wochen gesprochen wurde. Ein Mischidiom aus alten Sprachversatzteilen, denn die »Politik der Wende« ist soeben ausgerufen worden und jeder Funktionär, auch der Grenztruppenoffizier, darf sich nun »missbraucht und betrogen« fühlen, aber vorerst nur von Honecker und Mittag, denn die waren als erste im alten Stil zu Sündenböcken gemacht worden. Dazwischen schimmert eigene Wortsuche durch – hier noch als große Unbeholfenheit, das auszudrücken, was sich gerade ereignet: Geschichte! Ein schutzloser Augenblick: die alten Ideologieschilde, hinter denen man sich bislang versteckte, sind bereits halb zerbrochen. Die neuen, jede Selbstinfragstellung verhindernden Selbstgerechtigkeiten ob des später Erlebten – Mauerschützenprozesse! – noch nicht zur Hand.

Matthias-Joachim Blochwitz dokumentierte in den Tagen der Grenzöffnung für das Armeefilmstudio der NVA die Ereignisse. Wir blicken auf den Alltag an der Berliner Mauer inmitten ihres beginnenden Abrisses. Grauer November, Krähen im Niemandsland, so hebt diese ungewöhnliche Dokumentation an, in der die Ungewissheit des Übergangs vibriert. Rechts und links strömt es an den Posten vorbei. Warum stehen sie noch hier? Man stottert etwas von den Republikanern in der BRD, die man hier nicht haben wolle. Die Sprachbrocken aus dem Politunterricht fallen hörbar zu Boden, daneben wird überall laut geklopft. Grenzanlagen als Steinbruch für die neue Souvenirindustrie. So schnell kann der Schrecken verfliegen, einige erschreckt das tief. Der Posten schaut nicht hin, als er sagt, man müsse die Mauer nun »vor Beschädigung« schützen. Das ist die Schizophrenie des gelebten Augenblicks.

Warum dieser Film bislang ignoriert wurde? Vielleicht, weil er vom Armeefilmstudio produziert wurde: Wahrheit aus unberufenem Munde. Man misstraute diesem Studio, nicht zu Unrecht, denn dort wurden zumeist NVA-Werbefilme produziert. Aber dass der Westen nach 1990 überhaupt nicht mehr hinschaute, wer was wo zu welchem Zeitpunkt in der DDR tat oder unterließ, und sich mit simplen Täter-Opfer-Klischees begnügte – darin liegt die anhaltende Kränkung vieler Ostdeutscher. Auch der Weg des Regisseurs Blochwitz in die Armeefilmstudios ist kompliziert, also erklärungsbedüftig. Zum Fernsehen wollte er nach seinem Regiestudium in Babelsberg auf keinen Fall, suchte auf DDR-typische Weise eine Nische und fand sie ausgerechnet in den Armeefilmstudios. Dort ließ man ihn weitgehend in Ruhe, er konnte sich dort für eigene Theaterprojekte beurlauben lassen.

Nun wurde »Grenzdurchbruch 89«, dessen Rechte beim Progress Film-Verleih liegen, einmalig im Freiluftkino des Mauermuseums in der Bernauer Straße gezeigt – eine verspätete Premiere, sieht man vom Januar 1990 ab, als das Verteidigungsministerium sich in einer Sondervorführung dieses Dokument des eigenen Abtretens ansah. Der Regisseur ist anwesend und das Erstaunen über seinen Film groß. Der Rezensent der »Welt«, Hanns-Georg Rodek, zeigt sich erschüttert und resümiert über diesen »Vorstoß ins Herz der Schockstarre«: »Und dann ergreift den Betrachter (West) plötzlich eine Ahnung davon, dass damals in Deutschland (Ost) kein Operettenstaat unterging, sondern über Nacht 17 Millionen Leben auf den Kopf gestellt wurden.«

Ja, der Film ist etwas Besonderes: in seiner grauen Alltäglichkeit spiegelt er eine DDR, die im Ganzen an einer Grenze stand, die sie nicht zu überwinden vermochte. Warum sie das nicht konnte, darüber wird immer neu nachzudenken sein. Aber sensationell ist dieser Film nur für die, die bisher die Augen vor den Realitäten in der DDR verschlossen hielten. Die Unlust zu herrschen, die große Müdigkeit am Stillstand war in den Machtapparat selbst längst eingesickert – und die Grenztruppen der DDR waren eines der rigidesten Machtinstrumente. Aber man hatte auch hier insgeheim längst keine Lust mehr, die Grenze so martialisch nach innen zu bewachen und die Rolle des Buhmanns in der eigenen Bevölkerung zu spielen.

Das eigentliche Wunder der friedlichen Revolution war, dass diejenigen, die die Waffen hatten, sie nicht einsetzten. Es gab keinen Einsatzbefehl und erstaunlicherweise versagten auch keinem der 18-, 19-jährigen Soldaten, die mitten im Chaos der Auflösung an der Grenze Dienst taten, die Nerven. In den Memoiren des Chefs der Landstreitkräfte, Horst Stechbarth, lese ich, dass Armeegeneral Heinz Keßler im November 1989 Panzertruppen nach Berlin schicken wollte, aber dieser sein Ansinnen ablehnte. Es waren also Entscheidungen zu treffen in diesen Tagen, und es waren Offiziere, die dabei verantwortungsvoll entschieden – so wie Harald Jäger, Chef an der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße, der den Übergang ohne Befehl »von oben« öffnete, um eine Eskalation zu vermeiden. 1989 wurde diese Besonnenheit eher anerkannt als heute – bei der Öffnung des Brandenburger Tores hören wir den Regierenden Bürgermeister Walter Momper zuerst den Grenztruppen danken.

Ja, dieser 89er Herbst war das Woodstock der DDR. Ohne Hass, in einer Atmosphäre, die Freiheit als eine Möglichkeit begreift, sich für eine eigene Zukunft zu entscheiden. Auch bei den Grenztruppen wurden nun plötzlich Gewerkschaften gegründet, sogar ein Soldatenrat. Ein schnell verfliegender Traum sicherlich, aber sein Aroma bleibt in der Erinnerung.

Sehenden Augens sich selbst abzuschaffen und es ruhig geschehen zu lassen. Darin liegt Größe. Warum fällt es im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls so schwer, das anzuerkennen? Die Mauer wurde nicht wütend vom Volk gestürmt, sondern die Grenzer, mit Blumen entwaffnet, öffneten sie selbst. Oberstleutnant Lothar Stein sieht sich bereits da als »kommenden Sozialfall« und lächelt dazu. Tatsächlich trifft Blochwitz ihn später als Imbissbudenbetreiber auf der Oberbaumbrücke. Das sehen wir leider nicht mehr.

Wie geht man mit den Verlierern der Geschichte um? Diese Frage stellt sich hier wohl zum ersten Mal einigen Zuschauern (West). Da beginnen auch manche, an der selbst mitverbreiteten Siegerpose zu zweifeln. »Noch so ein Sieg und wir sind verloren«, heißt es bei einem großen Heerführer der Antike.

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