Beginn einer neuen Ära in Japan
Erstmals seit Kriegsende hat eine Partei die absolute Mehrheit
Das Ergebnis kommt einer Revolution gleich: Bei der Parlamentswahl am Sonntag hat Japans größte Oppositionspartei DPJ einen überwältigenden Sieg errungen. Die Demokraten gewannen 308 der 480 Sitze, die LDP kam nur noch auf 119. Mehrere ehemalige Minister, Premierminister und hohe Parteifunktionäre verloren ihre Wahlkreise zum Teil an Politikneulinge der Opposition. Premier Taro Aso hatte noch am Wahlabend seinen Rücktritt als LDP-Vorsitzender angekündigt, um die Verantwortung für die schlimmste Niederlage in der Geschichte der Partei zu übernehmen. Er wolle sich um die Erneuerung der Liberaldemokraten und ihre Rückkehr an die Macht bemühen. Die Wahlbeteiligung lag mit etwa 69 Prozent trotz regnerischen Wetters wegen eines herannahenden Taifuns knapp über jener beim Votum vor vier Jahren.
Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, in der die Arbeitslosigkeit mit fast sechs Prozent einen neuen Landesrekord erreicht hat, verlor die Bevölkerung offenbar das Vertrauen in die LDP, die einst für die Erfolge des japanischen Wirtschaftswunders gefeiert wurde. Jahrzehntelange Vetternwirtschaft und Skandale wie die mehr als 50 Millionen Renteneinzahlungen, die ihren Besitzern nicht mehr zugeordnet werden können, haben die Partei nach Ansicht von Beobachtern in Misskredit gebracht. Hinzu kommen peinliche Auftritte von LDP-Spitzen. Selbst im Wahlkampf musste sich Premier Aso mehrfach für verbale Ausrutscher entschuldigen.
DPJ-Spitzenkandidat Yukio Hatoyama versprach den Wählern Wandel nach US-amerikanischem Vorbild. Vor allem dem Klüngel zwischen Politikern, Bürokraten und Lobbyisten hat der 62-Jährige den Kampf angesagt. Ein starkes Kabinett soll seine Vision von einer sozial gerechteren Gesellschaft durchsetzen. Statt der öffentlichen Investitionen, mit denen die LDP die Krise überwinden wollte, verspricht die DPJ eine Stärkung des Gesundheitssystems, mehr Unterstützung für Familien mit Kindern und Subventionen für Bauern. Steuererhöhungen zur Finanzierung seiner Pläne schloss Hatoyama aus. Kritiker glauben allerdings nicht an die Finanzierbarkeit der Wahlversprechen – zumal Japan bereits heute mit einer Staatsverschuldung von fast 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die am höchsten verschuldete Industrienation ist. Die DPJ ist jedoch überzeugt, die Finanzierung hauptsächlich durch Streichung nutzloser öffentlicher Investitionen sicherstellen zu können.
Die Unzufriedenheit des Wahlvolks mit der LDP-Regierung jedenfalls schien größer zu sein als die Sorge vor unrealistischen Visionen. »Vielleicht wird auch die DPJ unsere Probleme nicht lösen können, aber es ist an der Zeit, dass wir endlich eine richtige Demokratie mit unterschiedlichen Regierungsparteien werden. Der DPJ-Sieg ist eine Revolution«, freute sich etwa ein Familienvater, als die ersten Hochrechnungen bekannt wurden. Ein Revolutionär ist Hatoyama aber trotz seines kühnen Wahlprogramms nicht. Bis 1993 war er selbst LDP-Mitglied. Wie Noch-Premier Aso stammt auch er aus einer Politikerdynastie, die Familie hat den Reifenhersteller Bridgestone gegründet.
Hatoyama will sein Kabinett in rund zwei Wochen vorstellen, wenn ihn das Parlament formell als Regierungschef bestätigt hat. Es wird erwartet, dass er dann seine ersten Schritte auf internationalem Parkett im September zum Beginn des neuen Sitzungsjahres der UN-Vollversammlung und auf dem G-20-Gipfel in Pittsburgh machen wird. Das Weiße Haus erklärte nach dem Wahlsieg Hatoyamas, dass USA-Präsident Barack Obama auf eine »starke Allianz« mit Tokio hoffe.
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