Erneut Notbremsung bei der S-Bahn
Hunderttausende Berliner Fahrgäste betroffen / Rücktritt der Verkehrssenatorin gefordert
Gesperrte Stationen, volle Züge, genervte Fahrgäste: Diesmal wurde Berlin vom S-Bahn-Notstand voll erwischt. Bei den ähnlich gravierenden Ausfällen im Juli wegen der Probleme mit den Radsätzen kamen der Bahn noch die Ferien zu Hilfe, das ganz große Chaos blieb aus. Jetzt haben besonders die Berufspendler aus dem Umland zu leiden, weil auf vielen Strecken die S-Bahnen gar nicht oder selten fahren. Statt 1100 Wagen sind nur noch 320 einsetzbar. So gibt es keine Verbindungen nach Spandau, Potsdam und Wartenberg, die wichtige Ost-West-Trasse über die Stadtbahn ist zwischen Alex und Westkreuz lahmgelegt. 24 S-Bahnhöfe sind mit den gelb-roten Zügen nicht mehr erreichbar.
Ausgelöst wurde das neuerliche Desaster, nachdem am Montag bei einem S-Bahn-Wagen entdeckt wurde, dass vier von acht Bremszylinder defekt waren. Jetzt sollen sie beim Großteil des Wagenparks ausgetauscht werden. Bahn-Vorstand Ulrich Homburg sprach von einem »sicherheitsrelevanten Vorfall«, der eine andere Entscheidung ausschloss.
Anders als bei den defekten Rädern bestätigte die Bahn diesmal, dass nicht Konstruktionsmängel, sondern Wartungsfehler die Ursache waren. Die Bauteile wurden offenbar seit 2004 nicht ordnungsgemäß instand gesetzt. Die Funktionsfähigkeit der Bremsen war dadurch nicht mehr gewährleistet. Falls sich das bestätigt, werde mit aller Konsequenz gegen die Verantwortlichen vorgegangen, versicherte Homburg.
Wie lange sich die Fahrgäste noch mit dem Rumpfangebot begnügen oder auf andere Verkehrsmittel umsteigen müssen, war gestern noch unklar. Die S-Bahn rechnet damit, dass die Austauschaktion etwa 10 bis zwölf Wochen dauern wird. Auch einen stabilen Notfahrplan kann das Unternehmen noch nicht anbieten. Erst in den kommenden Tagen werde sich zeigen, wann zumindest wieder feste Taktzeiten gewährleistet werden können, hieß es.
Alle Parteien und Fahrgastverbände reagierten empört auf die Vorgänge. Das Chaos sei ein Beleg für negative Folgen der Privatisierungsstrategie der früheren Bahnspitze, so Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). »Mit Blick auf kurzfristige Überschüsse wurde ein unakzeptabler Verschleiß in Kauf genommen.« Die Verkehrsexpertin der Berliner Linksfraktion, Jutta Matuschek, forderte, ein Herauslösen der S-Bahn aus dem Bahnkonzern zu prüfen, »um sie als eigenständiges regional agierendes Unternehmen in öffentlicher Hand« zu etablieren. Die Berliner SPD verlangte die Einstellung aller Zahlungen des Landes an die S-Bahn, bis der Verkehr wieder normal läuft.
Berliner Grüne und FDP warfen Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) Versagen vor und forderten ihren Rücktritt, die FDP auch den von Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht gegenüber der Bahn.
Die Verkehrssenatorin zeigte sich »tief erschüttert« über die Vorgänge und zitierte die Bahnchefs gestern Abend zur Krisensitzung. Die von Grünen und FDP geforderte Kündigung des S-Bahn-Vertrages stand nicht auf der Tagesordnung, stattdessen sollte es eine »förmliche Abmahnung« für das Unternehmen geben.
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