Im Schatten der Parlamente
Außerparlamentarischer Protest: Eine Kampagne zum Wahlboykott sammelt die Stimmen der Nichtwähler
Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago schrieb mit »Die Stadt der Sehenden« eine Parabel über einen Wahlboykott. Sie handelt von einer namenlosen Hauptstadt, in der 70 Prozent der Wähler ihren Stimmzettel unausgefüllt abgeben. Nach einer Wiederholung der Wahl, die noch mehr Weißwähler hervorbringt, bemüht sich der Premierminister um den Machterhalt, obwohl ihm ganz offensichtlich die Ermächtigung dazu entzogen wurde. Saramago zeigt ein von seinen Bürgern entrücktes parlamentarisches Geschäft.
Die Fiktion beschreibt die realen Verhältnisse recht genau. Die Kluft zwischen der Politik und der Bevölkerung ist gewaltig. Ein Jahr nach der letzten Bundestagswahl meinten 82 Prozent aller Deutschen und sogar neun von zehn der Ostdeutschen, dass auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht genommen werde. Das ergab eine Forsa-Umfrage. Und darüber hinaus: Annähernd jeder zweite glaubt nicht daran, durch Wahlen tatsächlich mitbestimmen zu können. Das Misstrauen gegenüber den Parlamenten könnte größer kaum sein. Dennoch läuft der diesjährige Wahlkampf wie gewohnt.
2005 blieb knapp ein Viertel der Wahlberechtigten zu Hause – noch nie war in der Nachkriegszeit die Wahlbeteiligung geringer. Diesem stillen Veto versucht die Kampagne »Wir haben keine Wahl« jetzt Gehör zu verschaffen, indem sie die Stimmzettel der Nichtwähler sammelt. Anstatt dass sie der Abstimmung fernbleiben oder ungültig wählen, können die Verweigerer ihre Wahlbescheide an Postfächer schicken. Dort werden die Zettel ausgezählt und am Tag vor der Bundestagswahl auf einer Demonstration in Berlin präsentiert.
Unterstützer dieses Wahlboykotts teilen den Argwohn, den die Umfrage offenbarte. Auf die Frage, ob er wählen gehe, antwortet ein Hausbesetzer aus der Berliner Brunnenstraße 183, er finde es schizophren, wenn er als mündiger Bürger einen Abgeordneten wählen solle, der die Politik für ihn mache. Außerdem stumpfe das Räderwerk der Institutionen ab, meinen die Boykotteure und verweisen auf das Schicksal der WASG, die sich einst als außerparlamentarisches Bündnis gebildet hat, um gegen die Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung zu protestieren. Nach der Vereinigung mit der PDS sei das Handeln dieser Aktivisten von der Straße fortan nicht nur von der eigenen Überzeugung, sondern wie bei jeder Partei, ebenso von Sach- und Fraktionszwängen bestimmt.
Auch Antje Vollmer hat 1983 die Seite gewechselt und saß für die Grünen im Bundestag. »Wir haben die Show attraktiver gemacht«, resümierte sie später. »Kaum gibt es ein interessantes Thema, schon haben wir das als Antrag, als Debatte oder als aktuelle Stunde im Parlament.« Allerdings habe das »die langsame Mobilisierung, die außerhalb des Parlaments stattfindet, ganz unmöglich gemacht«.
Doch die politischen Aktivisten von der Straße gibt es immer noch. Sie denken in Mosaiksteinchen von einer Demonstration zur nächsten und brauchen einen langen Atem. Dass ihr Engagement nicht aussichtslos ist, das zeigen die bisherigen Zäsuren der Nachkriegszeit: Weder die Protestbewegung von 1968 noch die Wende von 1989 ging von Parlamenten aus.
Zwei Parteien richten ihre Programme an Wahlboykotteure: DIE PARTEI rund um den Satiriker Martin Sonneborn nimmt den Parlamentarismus mit Humor, ist allerdings zur Bundestagswahl nicht zugelassen. Sie habe nur einen Landesverband in Hamburg – zu wenig für eine Bundestagswahl, entschied der Bundeswahlleiter. Die Punker-Partei APPD (Anarchistische Pogo Partei Deutschlands) steht auch nicht auf dem Stimmzettel, weil es ihr an Ernsthaftigkeit fehle, um auf die Willensbildung Einfluss zu nehmen, heißt es im Büro des Bundeswahlleiters.
Die Kampagne »Wir haben keine Wahl« hingegen meint es ehrlich und verzichtet auf Ironie. Wie viel Erfolg sie hat, wird man in einer Woche sehen. Immerhin gab es bei der letzten Bundestagswahl neben den Nichtwählern auch 756 146 ungültige Zweitstimmen – nicht alle davon waren aus Versehen falsch.
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