Die Herkunft der Pfifferlinge

Rüdiger Zell über die Überproduktion von Ängsten

  • Lesedauer: 6 Min.

ND: Angst vor Wirtschaftskrise, Inflation, Entlassung, Terror, Abstieg, Kurzarbeit, Schweinegrippe, Staatsverschuldung. Zahlreiche Menschen leiden heute unter Depressionen, die Therapeuten haben ausgebuchte Praxen. Sind diese Ängste in den Köpfen der Menschen real? Haben wir heute mehr Angst als je zuvor?
Zell: Das ist schwierig zu beantworten. Freud unterscheidet zwischen realen und neurotischen Ängsten. Also zwischen Ängsten, bei denen es ganz vernünftig ist, sie zu haben, etwa vor realen Bedrohungen, und solchen Ängsten, die irrational sind, die aus Krankheiten entstehen. Schon diese Unterscheidung ist nicht eindeutig. Es gibt immer einen kleinen »Grenzverkehr« zwischen diesen Phänomenen. Reale Ängste sind aber zunächst ein natürliches Gefühl, das uns warnt.

Angst ist also ein ganz natürliches Phänomen vor Gefahr?
Angst ist ein Warnsignal, das uns sagt, hier müssen wir überlegen, fliehen oder reagieren. Das ist die Grundausstattung. Ich unterscheide gern zwischen persönlicher und kultureller Ebene sowie öffentlichem Diskurs. Wir haben die Kultur der Angst, genauso eine Kultur des Zorns, also eine emotionale Gemengelage, die durch unser Leben, die Erziehung und öffentliche Einflüsse entsteht. Eine Studie hat das Angstgefühl in Deutschland untersucht. Erstaunlicherweise lautet das Ergebnis, dass Ängste parallel ansteigen. Die Entwicklung von ökonomischen, gesundheitlichen und politischen Ängsten verhält sich rhythmisch.

Es gibt bestimmte Phasen der Angst und bestimmte Themen der Angst in den Jahrhunderten. In welcher Phase befinden wir uns heute?
Es gibt reale Gefährdungen. Wir haben eine Wirtschaftskrise, das ist klar – es gibt immer Ängste, die gut begründet sind. Dann gibt es künstlich geschürte Ängste, die durchaus eine sachliche Grundlage haben können, die aber, wie sie öffentlich verarbeitet werden, über das Ziel hinausschießen. Denken Sie an die »Nahrungsmittelängste«. Ende der 80er Jahre hat niemand mehr Pfifferlinge gegessen, denn die kamen aus Belarus, und dort war das Kernkraftwerk hochgegangen. Es war interessant, wie verschiedene Gesellschaften darauf reagierten – in Westdeutschland war das ein riesiges Angstthema. Die Pilze aus dem Osten wurden jedoch nicht zurückgeschickt, sondern dann in der DDR verkauft. Heute kümmert sich kein Mensch mehr darum, wo die Pfifferlinge herkommen. Dann brach BSE über uns herein, da aß alle Welt für zwei Monate kein Rindfleisch. Nach einer Weile gibt sich die Angst, obwohl die realen Gefahren nicht geringer geworden sind.

In einem Ihrer Texte heißt es: Angst hilft nie, sie verhindert die Abwägung.
Freud unterscheidet, wie schon erwähnt, zwischen rationaler und krankhafter Angst. Er macht aber selbst eine Einschränkung, indem er fragt, ist nicht auch die reale Angst eine irrationale; er differenziert da. Er sagt, es ist dieser Angstimpuls, den wir brauchen, um mobilisiert zu werden, um die Gefahren überhaupt ernst zu nehmen. Darüber hinaus ist Angst ein problematisches Phänomen, weil es uns hindert, Dinge kühl abzuwägen.

Könnte das heißen, wir werden heute pausenlos mit Angstthemen mobilisiert, aber damit ständig überfordert, so dass wir nicht reagieren können?
Wir werden pausenlos in irgendwelche Sackgassen gejagt. Aber ich würde nicht sagen, dass wir gar nicht reagieren können. Ängste haben durchaus dazu geführt, dass wir bewusster reagieren. Tschernobyl hat dazu geführt, dass wir eine starke Anti-Atom-kraftbewegung haben, interessanterweise nur in Deutschland, in anderen Ländern nicht. Atomkraft ist auch in anderer Hinsicht ein gutes Beispiel: Sobald andere Ängste wachsen, zum Beispiel ökonomische, kommen wieder Leute, die sagen: Vielleicht ist es doch nicht so schlecht, ein paar Atomkraftwerke zu haben, wo sollen wir unsere ganze Energie denn herbekommen? Das ist natürlich auf lange Sicht ökonomisch und gesundheitlich vollkommen irrational, denn wir haben einen Abfall, der Milliarden Jahre strahlt. Eine kühle volkswirtschaftliche Rechnung sagt außerdem, das ist ökonomischer Wahnsinn. Es gibt immer die Gegenstimmen, die kurzfristig reagieren. Aber es ist richtig, wir haben eine gewisse Überproduktion von Ängsten.

Also sind wir doch ängstlicher als vor 200 Jahren?
Es gibt kurze Wellen der Angst, die aus bestimmten Anlässen entstehen. Norbert Elias sagt, dass seit dem Mittelalter die Auspegelung der Gefühle stetiger wird. In der Hinsicht, dass wir Gefühle nicht wegdrücken, sondern besser mit ihnen umgehen können. Seit Ende der 80er Jahre kann man eine Änderung des Umgangs mit Gefühlen beobachten. Vorher gab es eher die Phase der Selbstbeherrschung. In der öffentlichen Debatte werden Gefühle heute anders repräsentiert. Das kann man zum Beispiel an den veränderten Titelblättern bestimmter Zeitungen oder Zeitschriften lesen – die Sprache wird emotionaler und affektiver. In den 80er Jahren war es ein politischer Slogan, Angst zu haben. Es war opportun zu sagen, ich sitze auf den Schienen, blockiere die Züge und erkläre, ich habe Angst. Das war ein politisches Signal, ein Gefühl zuzulassen.

Das erhöhte Zulassen von Emotionalität ist Ausdruck dafür, dass auch Angst als emotionaler Ausdruck stärker in den Vordergrund rückt?
Das heißt erst einmal nur, dass sich der Diskurs geändert hat. Wir sind bereit, diese Gefühle zuzulassen. Wir fordern sogar, dass sie ausgedrückt werden. Lange Zeit lautete der philosophische Imperativ: Man muss Gefühle beherrschen. Innerhalb der letzten 20, 30 Jahre haben wir eine deutliche Entwicklung zu mehr Emotionalität im Alltag. Aber es geht nicht um alle Gefühle pauschal, ich nenne das die emotionale Signatur einer Zeit. Es gibt Ängste, Zorn, Mitgefühl und so weiter, doch wie die zueinander gruppiert sind, was wir zulassen, was wir zurückdrängen, diese Mischung ändert sich. Das ist keine lineare, eindimensionale Entwicklung, das ist eine komplexe Gemengelage.

Darf man von einer Politik der Angst sprechen, zum Beispiel medial gesteuert? Denken Sie, dass Angst politisch und ökonomisch manipulativ angewendet wird?
Manipulation gibt es sicher. Man sollte nur vorsichtig sein, vorschnell Verschwörungstheorien zu konstruieren. Es gibt eindeutige Fälle von Manipulation, zum Beispiel aus der jüngeren Geschichte, wo Politik gemacht wird, indem Angst geschürt wird. Die Bush-Regierung ist ein klassisches Beispiel. Es gab zunächst einen realen Grund – 9/11 –, und dann wurde die Angst benutzt, um eine bestimmte Politik durchzudrücken. Das muss aber auch auf eine bestimmte Angstbereitschaft treffen. In einem Land, in dem die Bevölkerung traditionell auf freien Waffenbesitz Wert legt, kann man mit solchen Ängsten sehr viel schneller und einfacher arbeiten als in anderen Ländern.

Es hat sich auch eine Wirtschaft der Angst entwickelt. Ist das die Alternative, den Ängsten zu begegnen?
Es gibt diesen bösen Spruch von Karl Kraus: Die Psychoanalyse ist die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt. So ist es natürlich auch ein bisschen mit der Wirtschaft der Ängste. Sie hat durchaus ein Janusgesicht. Durch den veränderten Diskurs hat sich auch die Grenze der Aufmerksamkeit verschoben. Das fängt bei ganz normalen Krankheiten an. Was wir vor 30 Jahren als Alterssenilität bezeichnet haben, wird heute als Krankheit gedeutet. Wir haben zum Beispiel einen Boom an Selbsthilfeliteratur. Oder an Lebenskunstbüchern, die über die Fähigkeit, glücklich oder unglücklich zu sein, sinnieren. Da gibt es seriöse und windige Psychologen. Doch es hat auch viel mit Individualisierung zu tun. Wir haben unter anderem die Zeit und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.

Interview: Sabine Sölbeck

Dr. Rüdiger Zill ist seit 1997 wissenschaftlicher Referent und Programmleiter am Einstein Forum in Potsdam, 2007 leitete er dort die Reihe »Angst – Kon(junk)turen eines Gefühls«. Er studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie in Berlin und London, war Gastdozent an der New School for Social Research New York und Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.