Patient statt Kunde
An ihrem Gesundheitswesen ging die DDR nicht zugrunde
1989 gehörte das Gesundheitswesen der DDR international zu den leistungsfähigen und anerkannten Systemen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte beispielsweise die medizinische Basisversorgung der Bevölkerung.
Trotz des beträchtlichen Unterschieds in der ökonomischen Leistungskraft befanden sich die DDR und die Bundesrepublik in den wesentlichen medizinischen Standards und gesundheitlichen Kennziffern auf einem vergleichbar hohen Niveau. Das berufliche Können der 52 000 Ärzte und Zahnärzte wurde nie in Frage gestellt. Ihr hoher Ausbildungsstand verweist auch auf das anerkannt hohe Niveau der Lehre an den medizinischen Hochschulen der DDR. Waren in der BRD medizintechnische Geräte oder Heilmittel für die Behandlung bestimmter Krankheiten besser verfügbar, so standen dem in der DDR bessere Ergebnisse auf dem Gebiet der Vorbeugung, der Kindergesundheit und des Impfschutzes gegenüber. Nicht zu bestreiten sind manche Engpässe, so die zu langen Wartezeiten bei Untersuchungen mit modernen Importgeräten wie Computertomografen, die nicht in ausreichender Zahl vorhanden waren. Immerhin waren die Gründe nachvollziehbar – im Gegensatz zur heutigen Situation, in der es unerträgliche Wartezeiten gibt, obwohl an Geräten kein Mangel herrscht.
An ihrem Gesundheitssystem ist die DDR sicher nicht zugrunde gegangen. In der benachbarten Bundesrepublik wusste man zu jener Zeit sehr wohl von den Vorzügen einer poliklinischen Struktur oder anderen Stärken, die möglicherweise gern übernommen worden wären. Aber was ist ein Bundesminister oder ein Ärztekammerpräsident gegen eine Kassenärztliche Vereinigung oder die Lobby der Pharmaindustrie? Deren Ohnmacht zieht sich durch alle Reformen des bundesdeutschen Gesundheitssystems, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Trotz des enormen medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts der letzten beiden Jahrzehnte mit den Möglichkeiten der digitalen Datenverarbeitung und den deutlichen baulichen Verbesserungen in vielen DDR-Krankenhäusern seit der Vereinigung bleibt der Umbau des Gesundheitssystems eine höchst aktuelle Aufgabe.
Das zweifellos hoch entwickelte bundesdeutsche Gesundheitssystem leidet an steigenden Kosten, zunehmender Zwei-Klassen-Medizin und territorialen Disproportionen, die nur mit strukturellen Veränderungen grundsätzlicher Art zu beheben sind. Ein zentrales Merkmal der DDR war der staatliche Charakter ihres Gesundheitswesens, verbunden mit dem programmatischen Ansatz, den Gesundheitsschutz als gesamtgesellschaftliches Aufgabe zu verstehen und zu gestalten. Das steht den heutigen Tendenzen der Privatisierung und Unterwerfung unter die Marktgesetze diametral entgegen. Mit dem Wort »staatlich« waren nicht nur die Eigentumsverhältnisse angesprochen. Es beinhaltete die unmittelbare Verantwortung des Staates für die Gesundheitspflege. Ein Beispiel: Eine gesetzliche Pflicht etwa zu bestimmten Impfungen oder für Reihenuntersuchungen von Kindern festzulegen, implizierte auch die Verpflichtung, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das setzte die DDR um.
Die einheitliche Krankenversicherung der DDR war transparent, sozial gerecht, kostengünstig und unbürokratisch. Ambulante und stationäre Behandlung bildeten eine Einheit, ebenso Prophylaxe, Diagnostik, Therapie und Nachsorge. Der vorbeugende Gesundheitsschutz spielte eine große Rolle – besonders bei Kindern und in Betrieben. Es existierte ein abgestimmtes System der Aus-, Weiter- und Fortbildung für Ärzte und andere Gesundheitsberufe. Aus all diesen Grundsätzen wurde eine sinnvolles, fachlich und territorial abgestimmtes System der medizinischen Grundbetreuung, der spezialisierten und der hoch spezialisierten Betreuung entwickelt. Ein Dispensairebetreuungssystem für Patienten mit Krankheiten wie Tuberkulose, Lungenkrankheiten, Rheuma oder Diabetes wurde aufgebaut, dessen Stärke die Erfassung und Betreuung praktisch aller Betroffenen, stringente medizinische Standards und entsprechende Weiterbildung des Personals waren.
Es wurden sinnvolle gesetzliche Regelungen für komplizierte Probleme gefunden. So galt bei Organspenden die Nichteinwilligungsregelung. Wer eine Spende nicht ausdrücklich abgelehnt hatte, galt als Spender – ein System, das in anderen Ländern heute noch existiert und das sich einige Experten für die Bundesrepublik wünschten, weil es Leben retten könnte. Dem Ministerium für Gesundheitswesen zugeordnete Institute befassten sich mit Spezialfragen wie dem Kinder- und Jugendgesundheitsschutz, der Arbeitsmedizin oder der Organisation des Gesundheitsschutzes sowie mit der Facharztaus- und Fortbildung. Beispielhaft war die Gesundheitsstatistik – darunter das Krebsregister. Fast auf all diesen Feldern besteht in der Bundesrepublik Handlungsbedarf, weil oft nicht alle betroffenen Bürger oder Patienten mit den heutigen Strukturen erreicht werden und auch in fachlicher Hinsicht nicht selten Mängel festgestellt werden.
Ein Wort ist inzwischen fast zum Synonym für das DDR-Gesundheitswesen geworden: Poliklinik. Die Zerstörung dieses Systems ist der gesundheitspolitische Sündenfall der Vereinigung. Polikliniken waren keine Erfindung der DDR. Ihre historischen Wurzeln liegen in der Idee einer »Sozialen Medizin« Rudolf Virchows ebenso wie in den in der Weimarer Republik entstandenen Ambulatorien der Krankenkassen. Nicht nur die Sowjetunion, sondern auch westeuropäische Länder nahmen sie sich nach 1945 zum Vorbild. Polikliniken sind mehr als Praxisgemeinschaften. Ihr Prinzip ist die Einheit vorbeugender, kurativer und rehabilitativer sowie sozialer Maßnahmen. Das erfolgt in einer abgestimmten Zusammenarbeit mehrerer für die ambulante Betreuung notwendiger Fachdisziplinen, in der Regel unter einem Dach. Ärzte und andere Berufsgruppen arbeiten gleichberechtigt zusammen und sind als Angestellte beschäftigt. So ist das individuelle ärztliche Handeln nicht unmittelbar vom finanziellen Wert der einzelnen ärztlichen Maßnahmen beeinflusst. Der Patient ist kein Kunde, die Gesundheit keine Ware. Eine Poliklinik kann einen vorbeugenden Ansatz und eine aufsuchende medizinische Arbeit im Unterschied zur Einzelpraxis viel besser organisieren. Die Poliklinik kann sozialen Belangen des Patienten besser Rechnung tragen und kommunale Funktionen zu Gesundheitsfragen in ihrer Stadt erfüllen. Betriebswirtschaftlich, also bei den Kosten, liegt ihr Vorteil allein mit Blick auf die bessere Auslastung vieler Geräte auf der Hand.
Dr. med. Heinrich Niemann ist Facharzt für Sozialmedizin und war von 1992-2001 Gesundheitsstadtrat in Berlin-Hellersdorf.
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