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- Kurz, Nick, Luft & Hickel
Das Erbe der DDR
Über Ursachen für das Scheitern des sozialistischen Versuchs, über Irrtümer, Versäumtes und Verfehltes wird man noch lange nachdenken. Aber auch darüber: Wie lebt es sich in einem Land ohne Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut, ohne sehr Reiche, ohne soziale Ängste; in einem Land, in dem Minister und Generaldirektoren großer Konzerne höchstens das Vierfache und nicht wie manche Bosse im heutigen Deutschland das vielhundertfache Einkommen des Durchschnittsverdieners erhalten? Wie lebt es sich in einem Land ohne Bildungsprivilegien? Wie lebt es sich, wenn Gesundheitsleistungen kostenlos sind? Wie lebt es sich ohne organisierte Kriminalität, Drogenkriminalität, in einem Land, in welchem die Kriminalitätsrate nur ein Sechstel im Vergleich zum benachbarten kapitalistischen Staat beträgt? Gab es in der DDR nicht in der Tat mehr menschliche Wärme, wie vor der Wende selbst die »FAZ« äußerte; mehr Hilfsbereitschaft unter den Menschen, mehr Kinderfreundlichkeit?
Der herrschende Zeitgeist begräbt solche Fragen unter einem Berg verlogener Thesen. So kriegen wir Unglaubliches im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu hören: Kindergärten und –krippen seien in der DDR auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) eingerichtet worden. Der Besuch von Kindereinrichtungen sei Pflicht gewesen. Auch Hausgemeinschaften sollen Pflicht gewesen sein. »Urlaub in Usedom für die Werktätigen geschah immer im Kollektiv« (Phoenix). Und das alles nicht in Sendungen über Kindergärten oder Hausgemeinschaften, sondern en passant in Mittagsmagazinen und anderswo eingestreut. Jede einzelne dieser Nachrichten hätte den Chefkommentator des DDR-Fernsehens, Karl-Eduard v. Schnitzler, jubelnd aus dem Sessel gehoben: »Jetzt haben wir sie so richtig ertappt!« Genüsslich hätte er doziert, dass vor der DDR-Gründung alle staatlichen Erlasse, auch die über die Erhöhung der Lebensmittelrationen, in Form von SMAD-Befehlen verkündet wurden. Über den kollektiven Urlaub in Warnemünde hätte er kein Wort verlieren müssen, das Volk hätte freiwillig darüber gelacht. Mache man sich nichts vor über die Gründe, weshalb kaum ein Ostdeutscher heute darüber noch lachen will.
Dem Zeitgeist geht es vor allem um Massenmord an den Erinnerungen der Menschen; seine Hauptangriffsfläche ist der Alltag. Mit Erfolg: Ehemalige DDR-Bürger arbeiten an der Überprüfung, manche an der Umdeutung ihrer Erinnerungen. »Hat mich dieser Nachbar nicht scheel angesehen, vielleicht der Stasi zugearbeitet?« Viele sind bereit, ihren Anti-DDR-Pflichtteil zu leisten, wenn Reporter sie befragen.
Nicht die Gesellschaften mit der größeren Kinderfreundlichkeit und mehr sozialer Gerechtigkeit haben gesiegt bei Wirtschaftswachstum und technologischer Entwicklung, sondern die Gesellschaften, die Gier und Angst als Antriebe einzusetzen vermochten. Gegen die Wucht und Dynamik dieser Triebkräfte war kein sozialistisches Kraut gewachsen. Aber gemach!
Die profitgetriebene Gesellschaft mit Wachstumswahn, Ellbogenmentalität und sozialer Polarisierung ist nicht zukunftsfähig. Die Frage, wie gutes Leben für alle möglich sein könnte, wird zur wichtigsten, weil zur Überlebensfrage werden. Erinnerungen an die DDR werden aus den Legenden, zurückkehren, praktisch anregend und hilfreich sein. Bewahrer, Weiterträger dieser Erinnerungen zu sein, ist nicht nur unentbehrlich für den redlichen Umgang mit Geschichte, sondern auch ein Dienst an der Zukunft.
In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.
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