Hautevolee vor den Schranken der Justiz
Sind Frankreichs Gerichte unabhängig – oder werden sie zu Werkzeugen der Politik?
Dass Frankreichs Altpräsident Jacques Chirac jetzt möglicherweise doch noch vor Gericht gestellt wird, um sich für Veruntreuungen aus der Zeit vor 1997 als Pariser Bürgermeister zu verantworten, erfüllt viele Franzosen mit Genugtuung. Nach vielen Politskandalen, bei denen die Justiz die Akten nur zu schnell wieder geschlossen hat, ist die Entscheidung von Untersuchungsrichterin Xavière Simeoni ein Zeichen der Hoffnung, dass es noch gleiches Recht für alle in diesem Land gibt.
Während seiner zwölf Amtsjahre als Präsident genoss Chirac Immunität, doch jetzt ist er vor dem Gesetz wieder ein Bürger wie jeder andere, möchte man glauben – wenn die Staatsanwaltschaft nicht noch ihr Veto einlegt. Die 29 Fälle von fiktiven Jobs für Parteifreunde oder deren Angehörige und selbst für den Leibwächter des Gewerkschaftschefs Marc Blondel, die jahrelang aus der Pariser Stadtkasse bezahlt wurden, sind ohnehin nur die Spitze eines Eisbergs.
Der viel größere Rest, vor allem die von Unternehmern erpressten Millionen für Chiracs Partei als Gegenleistung für städtische Aufträge, ist praktischerweise verjährt. Wäre die von Präsident Nicolas Sarkozy gewollte Justizreform schon verwirklicht, hätte Chirac überhaupt nichts mehr zu befürchten, denn Sarkozy will die unabhängigen – und für die Regierung oft unbequemen – Untersuchungsrichter abschaffen und ihre Aufgaben den Staatsanwälten zuschlagen, die an die Weisungen des Justizministers gebunden sind.
Gelegentlich benutzt Sarkozy die Justiz auch, um persönliche Rachegelüste zu befriedigen. Dies zeigte der gerade zu Ende gegangene Clearstream-Prozess, wo es um manipulierte Kontenlisten einer luxemburgischen Bank ging. Dass die darin aufgetauchten Namen prominenter Franzosen – darunter Sarkozy – hinzugefügt worden waren, um den Betroffenen Steuerflucht zu unterstellen, hätte allen Beteiligten und auch dem damaligen Außenminister und späteren Premier Dominique de Villepin schnell klar werden müssen, befand das Gericht. Die Richter sind überzeugt, dass de Villepin die Listen als echt behandelt hat und anonym der Justiz zuspielen ließ, um Sarkozy als Konkurrenten im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der Rechten auszuschalten.
Im Prozess war Sarkozy durch einen Anwalt als Nebenkläger beteiligt – ein Novum in der Geschichte der Französischen Republik, deren Präsident laut Verfassung »Garant der Justiz und oberster Dienstherr aller Richter« ist. Das Strafmaß für die Verurteilten im Clearstream-Prozess wird erst im Januar verkündet. Im engen Kreis soll Sarkozy erklärt haben, er wünsche sich de Villepin »an einem Fleischerhaken aufgeknüpft«. Die Staatsanwaltschaft hat 18 Monate Gefängnis auf Bewährung beantragt.
Ins Gefängnis soll dagegen der ehemalige Innenminister Charles Pasqua, den gerade ein anderes Gericht zu 375 000 Euro Geldstrafe und drei Jahren Haft, davon eines ohne Bewährung, verurteilt hat. Dem mit ihm verurteilten Waffenhändler Pierre Falcone hatte Pasqua als Minister den Rücken freigehalten für illegale Geschäfte mit Angola. Als Gegenleistung erhielt er stattliche Zahlungen für seine Wahlkampfkasse. Dass er jetzt wie ein gewöhnlicher Krimineller verurteilt wurde, kann Pasqua nicht verstehen und er will es auch nicht hinnehmen. Schon hat er die Freigabe der als »geheim« klassifizierten Akten über die Waffengeschäfte gefordert, dann würde jedem klar werden, dass der damalige Präsident François Mitterrand und Premier Edouard Balladur seinerzeit im Bilde waren und er in ihrem Sinne gehandelt hat. Um weiteren politischen Schaden abzuwenden, beeilen sich denn auch Parteifreunde, von einer »großen Ungerechtigkeit angesichts all dessen, was Pasqua in seinem langen Politikerleben für die Republik geleistet hat«, zu klagen. Dabei lassen sie nicht unerwähnt, dass Pasqua im Département Hauts-de-Seine jahrelang der »Pate« eines vielversprechenden Nachwuchspolitikers namens Sarkozy war.
Gelegentlich will die Justiz auch streng sein und darf es nicht. So erging kürzlich das Urteil im Prozess gegen den französischen Zweig der weltweit agierenden Scientology-Sekte. Zwei ihrer Unterorganisationen wurden verboten und vier Funktionäre zu hohen Geldstrafen verurteilt, weil sie nachweislich die Ausplünderung naiver Anhänger organisiert hatten. Doch zu dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Verbot von Scientology in Frankreich kam es nicht, denn völlig unbeachtet war vor Monaten im Parlament eine Gesetzesänderung verabschiedet worden, nach der eine Verurteilung wegen Betrugs nicht mehr zur Auflösung einer Organisation ausreicht. Bis heute ist ungeklärt, wie diese fast maßgeschneiderte Passage in den Gesetzentwurf hineinkam und ob Scientology nun sogar schon Politikerkreise unterwandert.
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