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- 20 Jahre nach '89 - 52 Geschichten
Wir haben souverän gehandelt
Hans Modrow im ND-Interview über Glaubhaftigkeit, Gefahren und Gewaltlosigkeit
ND: Der 9. November steht in der deutschen Geschichte für viele Ereignisse, auch für traurige. Ist das der 9. 11. 1989 für Sie auch?
H. Modrow: Jedenfalls kann ich nicht uneingeschränkt Fröhlichkeit empfinden. Denn das, was am 9. November 1989 geschehen ist, ging haarscharf an einer Katastrophe vorbei. Eine kopflose DDR-Führung hatte etwas in Bewegung gesetzt, was durch Offiziere, die an Grenzübergangsstellen standen, wieder in Balance gebracht wurde. Sie haben die Katastrophe, die in der Luft hing, verhindert. Die fröhlichen Bilder, die uns heute bewegen, haben auch Schattenseiten.
Wie hat sich Hans Modrow an jenem 9. November gefühlt?
Zunächst habe ich gar nicht begriffen, um was es geht. In dem Moment, als die Grenze aufgemacht wurde, wusste ich genau so wenig davon, wie die drei zuständigen Minister – der für Nationale Volksarmee, der Innenminister und der für Staatssicherheit. Wir saßen im ZK der SED und ahnten nicht, was draußen vor sich ging.
Aber wie war dann Ihre Gefühlslage am Abend? Gehörten Sie zu denen, die schon das Ende der DDR sahen?
Hätte ich zu denen gehört, hätte ich am 17. November keine Regierungserklärung abgeben können, in der ich festgestellt habe, dass die DDR weiter existiert und meine Regierung sie umgestalten will.
Eine Fehleinschätzung?
Bei der Grenzöffnung war weder in Moskau noch bei den westlichen Vertretern klar, was ablaufen wird. Bush und Gorbatschow trafen sich erst Anfang Dezember auf Malta, und keiner von beiden ging davon aus, dass eine schnelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten stattfinden wird. Alles war offen, auch wenn die deutsche Frage natürlich im Raum stand. Weder in Brüssel, wo Bush für die NATO die Begegnung auswertete, noch bei uns in Moskau wurde am 4. Dezember 1989 dieses Thema behandelt. Und nach meinem Gespräch mit Gorbatschow beschloss das Zentralkomitee der KPdSU noch am 8. und 9. Dezember, dass die DDR fester Verbündeter sei und als solcher unterstützt werde.
Haben Sie darauf vertraut, oder waren Sie da schon skeptisch?
Ich war skeptisch, aber dennoch der Überzeugung, dass noch nicht alle Weichen gestellt sind.
Sie hofften also, das Ruder noch rumreißen zu können?
Ich habe bis in den Januar hinein geglaubt, dass wir noch eine längere Übergangsphase für die DDR gestalten können, die sich in einem Staat der Arbeiter und Bauern vollziehen wird.
Gerade diese Formulierung haben in jener Zeit viele in Zweifel gezogen.
Diese Formulierung war am 1. Dezember 1989 von der Volkskammer bestätigt worden. Sie war nicht nur in der Verfassung festgeschrieben. Es war Verständnis von Millionen, dass die DDR ein Staat der Arbeiter und Bauern war.
Für den übernahmen Sie am 13. November die Regierungsgeschäfte. Wie war Ihnen da zumute?
Wir waren uns einig, dass es eine wirklich große Koalition sein muss, in der alle fünf Parteien gleichberechtigt mitarbeiten – es also keine führende Partei mehr gibt. Wir waren uns auch einig, dass etwas Neues in der Geschichte der DDR geschehen sollte: nämlich, dass die zurückgetretene Regierung Rechenschaft ablegt, damit die neue Regierung und ihr Chef den Rücken frei bekamen. Rückschauend ist der 13. November sehr zwiespältig für mich abgelaufen. Einerseits wurde ich als Ministerpräsident gewählt und saß einsam auf dieser gewaltigen Regierungsbank, auf der bislang 43 Ministerrats-Mitglieder gesessen hatten. Zugleich mussten wir erleben, auf welch peinliche Art die alte Regierung Rechenschaft ablegte.
Sie meinen Erich Mielke mit seiner Liebeserklärung an das Volk?
Ich meine auch Mielke.
Außer der Einsamkeit auf der Regierungsbank – haben Sie sich mit der Wahl zum Ministerpräsidenten geehrt gefühlt? Oder mehr als Notnagel? Haben Sie womöglich Angst gehabt? Oder war die Wahl Ihnen späte Genugtuung?
All das spielten kaum oder gar keine Rolle. Ich bin schon ab der Entscheidung im ZK der SED am 18. Oktober 1989 davon ausgegangen, dass nichts so bleibt, wie das ZK sich das dachte. Es gelang aber nicht, eine Diskussion auf dem Plenum auszulösen. Die nachfolgende Zeit machte sichtbar, dass wir in einem Vakuum blieben, keine Stabilität zustande kam. Die Absicht, die Dinge mit dem Wechsel eines Mannes an der Spitze in den Griff zu bekommen, schlug fehl. Mir war klar, dass man nicht nur Kritik üben kann. Für Vertrauen und Glaubhaftigkeit muss man auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Mir war bewusst, dass ich kein Vertrauter von Krenz war, so wie ich es vorher nicht von Honecker gewesen war – dafür besaß ich spürbar Vertrauen in der Partei und darüber hinaus. Das wollte ich rechtfertigen.
War es ob der vielen Auseinandersetzungen später ein schwerer Gang für den Ministerpräsidenten Modrow zu Erich Honecker?
Ja. Es trafen sich da zwei Menschen, die sich Jahrzehnte gekannt haben. Ich bin schließlich nicht nur als Ministerpräsident zu ihm gegangen, sondern als einer, der 1950 sein erstes Kadergespräch mit Honecker in Potsdam hatte. Und mir war klar, dass ich einem verbitterten Mann gegenübertreten musste, dem ich aber nach wie vor Achtung entgegenbrachte. Denn ich war als junger Volkssturmmann für die Nazis in den Krieg gezogen, als Erich Honecker als Widerstandskämpfer im Zuchthaus Brandenburg saß. Zugleich bin ich auch mit dem Bewusstsein zu Honecker gegangen, Verantwortung für seine Sicherheit zu tragen. Der Hass gegen ihn war derartig organisiert worden, dass es wirklich um sein Leben ging.
Hans Modrow galt trotz aller Konflikte mit der SED-Führung als Mann der alten Macht. Sie hatten dennoch Hoffnungen, Ihre Glaubhaftigkeit komme zum Tragen?
Auch hier muss man sich hüten, denen aufzusitzen, die heute die Geschichte nach dem Zeitgeist schreiben. Die Kräfte, die am 7. Dezember den Runden Tisch gründeten, waren doch nicht nur »neue Macht«. Dort hatten auch alle fünf Parteien meiner Regierung Platz. Die Etablierten arbeiteten mit den Vertretern der Bürgerbewegungen zusammen. Und ihre erste Erklärung lautete, dass auch sie die führende Rolle der SED überwinden, aber die DDR erhalten und umgestalten wollen. Wie sollte man auf die Idee kommen, dass alles schon gegessen war? Noch am 7. Dezember wurde die Bewahrung der DDR beschworen, aber zu Weihnachten lag mit den Einheits-Plänen ein ganz anderes Geschenk auf dem Tisch.
Sie sahen sich also auf gutem Weg, während in der Bundesrepublik an einem ganz anderen Projekt gewerkelt wurde?
Ich habe jedenfalls keine Regierungserklärung geliefert, die innerhalb der Regierung angezweifelt wurde. Die Massenbewegungen auf den Straßen waren am Auslaufen. Der Runde Tisch war zu einem demokratischen Instrument gesellschaftlicher Kräfte geworden, die sich damals politisch engagierten. Damit war eine Chance auf Stabilität gegeben. Als sich am 7. Dezember der Runde Tisch konstituierte, ergab eine Umfrage, dass Volkskammer-Präsident Günter Maleuda 62 Prozent Zustimmung besaß, Staatsratsvorsitzender Manfred Gerlach erhielt 52, der Ministerpräsident 84, Bärbel Bohley vom Neuen Forum 24 Prozent. Das zeigt, dass sich in einer sehr kurzen Phase Vertrauen zur Regierung aufgebaut hatte und hohe Erwartungen existierten.
Die offenbar unerfüllt blieben.
Eben nicht. Wenn meine Regierung nicht Vertrauen gewonnen hätte, wäre es Stolpe nicht möglich gewesen, ein Gespräch mit den Kirchen der DDR zu vermitteln. Welche Veranlassung hätte Bundespräsident von Weizsäcker gehabt, sich mit mir in Potsdam zu treffen? Dass Frankreichs Präsident Mitterrand noch vor Weihnachten in die DDR kam, der Außenminister der USA zum ersten Mal die DDR besuchte, Großbritanniens Außenminister im Januar kam und mich Japans Ministerpräsident zum Staatsbesuch einlud – alles keine Zeichen, dass die DDR bereits abgeschrieben war.
Womöglich hat all das die DDR-Bevölkerung weniger beeindruckt als Sie selbst. Der DDR blieb nur noch kurze Zeit.
Die DDR hatte noch fast ein Jahr. Auch wenn man heute von 40 Jahren spricht – wir haben minus vier Tage 41 Jahre bestanden.
Der Bewegungsspielraum wurde dennoch enger. Was war nach Ihrem Treffen mit Kohl am 19. Dezember in Dresden noch möglich?
Dieses 41. Jahr der DDR ist zu dritteln. Das erste Drittel bezieht sich auf die Arbeit unserer großen Koalition. Wir haben in zwei Monaten mehr Gesetze und Entscheidungen getroffen, als das in zwei oder drei Jahrzehnten davor geschehen ist. Mit gewachsenem Vertrauen traten danach Bürgerbewegte der Regierung bei – wir bildeten eine Regierung der nationalen Verantwortung. Und dann kam der 18. März mit einer demokratischen Wahl.
Und ohne Fünf-Prozent-Hürde.
Hätte es die gegeben, wären sieben Parteien des Runden Tisches nicht ins Parlament gekommen. Auch das gehört zur Demokratie dieser Zeit. Derlei soll aber heute aus dem Geschichtsbild verschwinden, damit der Begriff der friedlichen Revolution stimmt.
Es war keine friedliche Revolution?
Der Begriff der friedlichen Revolution wird heute lediglich gebraucht, um der Bundesrepublik Deutschland 20 Jahre danach eine Legitimität zuzusprechen, die aus einer Revolution gewachsen wäre. Das aber war nicht der Gang der Geschichte. Für mich war es eine Implosion. Die DDR ist in sich zusammengefallen – wie letztlich die Sowjetunion auch.
Unaufhaltsam?
Die führende Rolle der SED wurde am 1. Dezember aus der Verfassung gestrichen. Freilich kann man meiner Regierung den Vorwurf machen, dass wir den Prozess des Zusammenfallens nicht genügend abgebremst haben. Ich denke aber, wir haben mehr gebremst als man heute gemeinhin wahrhaben möchte. Da für mich ab Mitte Januar klar war, dass die DDR nicht mehr ewig existieren wird, suchten wir den Weg nach Gestaltungsmöglichkeiten für die Vereinigung – und gingen dazu über, Entscheidungen zu treffen, die darauf abzielten, Bürgerinnen und Bürgern der DDR Rechte und auch Eigentum mit auf den Weg in ein vereinigtes Deutschland zu geben.
Was hat dazu geführt, dass Sie im Januar zu dieser Einsicht gelangt sind, nachdem Sie ja zunächst an längere Zeiträume gedacht hatten?
Es gab für mich zwei Schlüsselerlebnisse. Erstens habe ich Anfang Dezember bei den Begegnungen in Moskau erfahren, dass Gorbatschow ohne Abstimmung mit seinem Verteidigungs- und Außenministerium und ohne inhaltliche Vorbereitung nach Malta gefahren war – damit war klar, dass diese Seite des Warschauer Vertrages im Unterschied zu den Erklärungen der Militärs der UdSSR die DDR nicht bewahren wird. Das zweite Erlebnis war beim Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe am 9. und 10. Januar in Sofia, wo deutlich wurde, dass auch die Integration auf wirtschaftlichem Gebiet nicht weiter funktionieren wird. Wir mussten uns also auf uns selbst besinnen. Bei unserer Suche nach einem eigenen Weg entstand ein Novum in der Geschichte der Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR. Zum ersten Mal wurde in Berlin eine Konzeption – die für die etappenweise Vereinigung beider deutscher Staaten – ausgearbeitet. Nicht wir waren in Moskau vorgeladen, sondern wir sind nach Moskau geflogen, unsere Vorstellungen vorzutragen. Daraus entstand der Dreistufenplan, verbunden mit dem Konzept, das vereinte Deutschland militärisch neutral zu gestalten.
In dieser Zeit ist Ihre Verehrung für Gorbatschow dahin gewesen?
Die ging eigentlich früher – so Ende 1987 – zuende, nachdem überschaubar wurde, dass die Reise der Sowjetunion eher ins Chaos als in eine stabile Entwicklung geht. Das änderte zwar nichts an Auseinandersetzungen, die vom Politbüro des ZK der SED mit mir geführt wurden, weil ich für Umgestaltungen in der DDR eintrat. Aber ich wollte das nicht mit einem Konzept, wie es Gorbatschow betrieb. Im Januar 1989 wollte ich mit meinem Brief an Honecker Probleme in der DDR zur Sprache bringen. Doch darüber zu diskutieren, war niemand im Politbüro bereit. Im Gegenteil. Mit einer sehr kritischen Auseinandersetzung mit meinen Positionen wurde ein Drohsignal an alle anderen Bezirkschefs gegeben.
Ihre Desillusionierung über Gorbatschow fällt in die Zeit, da das berühmte Geheimtreffen mit dem KGB in Dresden stattgefunden hat, auf dem über eine Ablösung Erich Honeckers geredet worden sein soll. Egon Krenz hat in einem ND-Interview zu Protokoll gegeben, Sie seien nicht dabei gewesen.
Viele der Darstellungen von Krenz teile ich nicht. Wer noch heute wie damals von oben auf die Dinge schaut, wird die Widersprüche und Vorgänge, die zum Zerfall der DDR führten, nicht verstehen.
Waren Sie nun oder nicht?
Es gab nach meiner Kenntnis kein spezielles Treffen, aber unterschiedliche Gespräche – so auch mit mir. Immer nachhaltiger wurden die Fragen meines Amtsbruders in Leningrad, der dem Politbüro der KPdSU angehörte. Es gab manche Zeichen für ein verstärktes Interesse Moskaus an den Vorgängen in der DDR. Nicht nur der KGB interessierte sich. Auch Politbüromitglied Medwedjew machte Urlaub in der DDR und sprach unter anderem mit mir. Und unter den 350 000 Sowjetsoldaten in der DDR waren auch Aufklärer, die sich im Umfeld ihrer Standorte umsahen. Dass ich in diversen Interviews, die der »Spiegel« mit sowjetischen Funktionären führte, immer mal wieder als sogenannter Hoffnungsträger ins Gespräch gebracht wurde, blieb ein politisches Spiel von außen, dass allerdings nach innen wenig freudvolle Wirkungen für mich hatte.
DDR-Wissenschaftler haben in der Sowjetunion in dieser Zeit Debatten darüber erlebt, man würde die DDR irgendwann fallen lassen.
Das halte ich für stark verkürzt. Die Sowjetunion, glaube ich, ging zunächst davon aus, dass sie die DDR nicht aufgibt. Sie sah unser Land in allen Verhandlungen zwischen den vier Siegermächten als Faustpfand von beachtlicher Bedeutung. Und sie war, auch als Standort ihrer Truppen, ein ganz wichtiger Faktor für die Sicherung sowjetischer Interessen.
Sie glaubten, dass sie dieses Pfand länger in der Faust behält?
Sie hat es leider gar nicht ausgespielt. Gorbatschow hat die DDR nicht einmal verkauft. Der Leiter der Internationalen Abteilung im ZK der KPdSU, Valentin Falin, wollte Gorbatschow davon überzeugen, dass er bei den Begegnungen mit Kohl im Sommer 1990 mindestens 100 Milliarden Mark einfordern sollte – etwa die Leistungen, die die DDR für Reparationen an die UdSSR aufbringen musste. All das ist nicht geschehen. Gorbatschow hat nicht mal mehr die Interessen seines eigenen Landes wahrgenommen. Kürzlich hatte ich im Russischen Außenministerium ein Gespräch mit dem Vize-Außenminister und erfuhr, dass man heute einschätzt, die sowjetische Diplomatie von damals habe große Fehler gemacht und noch größere Naivität besessen.
Sie waren fast auf den Tag vier Monate Ministerpräsident. Wenn von der DDR nur eine Fußnote bleiben soll – als was geht die Regierungszeit von Hans Modrow in die Geschichte ein?
Der Hass heutiger Politik gegen die DDR-Geschichte ist für eine Fußnote zu groß.
Was bleibt also von der Modrow-Zeit?
Seriöse Historiker haben längst eines begriffen: Hier wurde eine Übergangszeit gestaltet, der zuzuschreiben ist, dass in einer Phase großer Gefahren – nicht nur im eigenen Land, sondern auch zwischen den militärischen Blöcken – Gewaltlosigkeit gewährleistet wurde. Daran kommt niemand vorbei. Wir hatten zwar nur eine sehr kurze Zeit, aber wir haben der Sowjetunion als Siegermacht zudem noch einmal eine große Leistung entgegengebracht. Wir haben am 1. März 1990 erklärt, dass das Potsdamer Abkommen und die sich daraus ergebenden Entscheidungen auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone zur Enteignung rechtens waren und bleiben. Das hat immerhin bis heute Nachwirkungen.
Die da sind?
Wenn der Präsident der Tschechischen Republik für sein Land im Lissabon-Vertrag eine Sonderklausel einforderte, dann ist das darauf zurückzuführen. Wir wollten mit dieser Erklärung sowohl den DDR-Bürgern etwas mit auf ihren Weg in die Vereinigung geben, als auch der Bundesrepublik die Chance nehmen, gegenüber Polen und der Tschechoslowakei Eigentumsansprüche zu stellen. Das sind schon Ereignisse von historischem Rang, die das Völkerrecht betreffen.
Haben Sie noch heute 20 Jahre nach den turbulenten Ereignissen manchmal böse Träume, als Konkursverwalter der DDR zu wenig ausgerichtet zu haben – oder sind Sie eher stolz, in der relativ kurzen Zeit doch noch so viel hinbekommen zu haben?
In meinem ganzen Leben habe ich das Wort Stolz auf etwas, was ich selber vollbracht habe, nicht angewandt. Mir klingt es immer jämmerlich in den Ohren, wie häufig unsere Kanzlerin heute stolz auf sich ist. Ich sage in aller Bescheidenheit, dass wir in dieser Übergangszeit den Grundsatz der Souveränität der DDR bewahren konnten. In der Zeit meiner Regierung gab es keine Berater der Bundesrepublik, keine technischen Ausrüstungen, keine durchgeschalteten Telefone nach Bonn. Wir waren souverän und haben souverän gehandelt.
Das klingt aber nun doch nach einigem Stolz.
Ach, ich blicke durchaus auch selbstkritisch zurück. Wir waren es auch, die die Wirtschafts- und Währungsunion, wenn auch mit ganz anderen Vorstellungen, eingeleitet haben. Mit der hat ab 1. Juli – nicht flankiert durch Maßnahmen, die der DDR noch die Chance wirtschaftlicher Stabilität geboten hätten – der Niedergang im Osten begonnen. Schon 1991 ist die Wirtschaft im Osten, gemessen an 1989 allein im Bereich des Maschinenbaus um 72 Prozent abgesackt gewesen. Oder denken wir nur an die nach Rohwedders Tod plötzlich völlig gewandelte Treuhandanstalt, in der Einmaliges in der Geschichte abgelaufen ist. Wenn vom Volkseigentum der DDR 85 Prozent in die Hände westdeutscher Konzerne und Unternehmen gegangen ist, war das die große Enteignung, die wir eigentlich verhindern wollten.
Der Frage nach den bösen Träumen sind Sie ausgewichen. Sind Sie völlig mit sich im Reinen?
Wer einen Arbeitstag hat, der 18 Stunden und länger ist, der hat in der Nacht keine Träume. Mein Glück ist, dass ich nach harter Arbeit auch schlafen kann. Das hat nichts damit zu tun, dass mir etwa die Nachdenklichkeit über meine Arbeit abhanden kommt. Wir haben ganz gewiss Fehler gemacht, ich habe sie Zeit meines Lebens gemacht. Aber ich habe mich zugleich stets bemüht, sie zu analysieren – und nicht zu wiederholen. Das war auch für meine Zeit als Ministerpräsident entscheidend. Wir haben keine Sitzung begonnen, ohne unsere Situation zu analysieren. Sichtbar war, wie uns die Zeit weg lief. Wir waren bemüht, zumindest Abläufe zu bremsen, dass sie gestaltbar blieben. Wir hatten wenig Zeit, darüber nachzudenken, wie wir uns fühlten. Wir mussten einfach handeln.
Für Visionen blieb da also gar keine Zeit?
Nein.
Und für Enttäuschungen?
Die gab es hinreichend. Aber wenn ich mir meine Regierung anschaue, dann haben auch die, die mit der Herausbildung der SED/PDS den Weg in die neue Partei nicht mitgingen, ihre Arbeit gemacht. Wenn man dagegen Leute wie Berghofer nimmt, dann sind es Karrieristen, die sehr zeitig ihre Visionen aufgegeben haben – oder nie welche hatten.
Über Helmut Kohl haben Sie sich sicher nie Illusionen gemacht.
Nein, warum sollte ich? Ich hatte immer das Gefühl, dass Kohl Personen nur über Politik berechnet. Das war sehr spürbar, als entschieden war, dass die Wahl am 18. März stattfindet. Ab da war die Zeit für scharfe Auseinandersetzungen mit meiner Regierung und meiner Person gekommen. Beispielsweise nach unserer Entscheidung für den Kauf von Häusern, Grund und Boden hieß es: »Modrow will seine Genossen mit einem Haus versorgen«. Dass es Zehntausende waren, die mit dem Modrow-Gesetz ihr Heim behalten haben, wurde ignoriert.
Veranstaltungshinweis:
»20 Jahre nach der Modrow-Regierung« ist der Titel eines Symposiums der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das morgen (Dienstag, 17. November) um 17 Uhr im Bärensaal des Alten Stadthauses, Jüdenstraße 42 in Berlin unter anderem mit Hans Modrow und Christa Luft stattfindet.
Am nächsten Montag: Tschechien im Umbruch
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