- Kommentare
- Flattersatz
Viren als Popstars
Fachwissen ist derzeit auch nicht mehr das, was es früher mal war. Nicht wenige, die heute zum Arzt gehen, treten das Gespräch im Besitz einer fertigen Diagnose an. Im Internet unter Eingabe sämtlicher Symptome erstellt. Und die medizinischen Abteilungen aller Ebenen begegnen Patienten oft kaum noch mit Diskretion, sondern mit dem Gegenteil davon. Ob es um Schweine- und Vogelgrippe, um Depressionen, risikoreiche Gehirnoperationen oder komplizierte Verletzungen von Fußballern geht: Das Arztgespräch wird von den Damen und Herren, die früher weiße Kittel trugen und heute mitunter gar keine mehr, gern in den öffentlichen Raum getragen. Ferndiagnosen von so genannten Experten, auch wenn sie den jeweils in Rede stehenden prominenten Leidenden nie gesehen haben, fluten die Programme.
Viren wie H5N1, die Vogelgrippe, oder H1N1, die Schweinegrippe, sind unterdessen kaum noch von Popstars zu unterscheiden und werden auch so behandelt. Jedenfalls medial. Das halbe Volk diskutiert neuerdings über das Für und Wider von bisher unbekannten Wirkverstärkern in Anti-Grippe-Injektionen. Als gelte es, sich für eine politische Partei zu entscheiden. Die zuletzt viel besprochene euphorische Phase kurz vor einem beschlossenen Selbstmord sorgt für verbale Vollbeschäftigung in Straßenbahnwagen und zeigt, dass Demokratisierung Grenzen hat. Die Demokratisierung der Diagnostik schafft Verwirrung statt Klarheit über die ohnehin zu teuere Volksgesundheit.
Wer ob des ganzen Schwadronierens ein starkes Antidepressivum bräuchte, wird freilich weiterhin nicht bemerkt. Die Täter in Presse, Funk und Fernsehen geben das aufgeregte Treiben nämlich als Beitrag zur Aufklärung aus. Nur dient die brachiale Eventisierung von Krankheit und Tod weniger der Aufklärung als der Quote. Wenn keine prominenten Toten da sind, die Angst vor einer Epidemie nachlässt oder der Impfstoff nicht reicht, tritt der Aufklärungsdrang zurück. Und alle tun so, als hätte die Hysterisierung nie stattgefunden. Die Hysterisierer leben dann notgedrungen von Aufrufen gegen die Hysterie, wie bei der Schweinegrippe zu bemerken.
Die tätige Abwertung diskreter fachlicher Arbeit ist keineswegs auf die Medizin beschränkt. Wenn die vom Bundespräsidenten berufenen und auch nicht ganz billigen fünf Wirtschaftsweisen, wie gerade geschehen, der Kanzlerin schriftlich geben, dass die Finanz- und Steuerpolitik ihrer Regierung nicht seriös ist, lächelt die das süßsauer weg. Als wollte sie sagen: Freunde, wenn ich selber ins Internet gucken würde, stelle ich mir inhaltlich das Gegenteil von eurem dicken Wälzer zusammen. Gut möglich. Aber eine Regierung, die nach der Wahl auf das Volk ohnehin nicht mehr hört und auch der Wissenschaft die kalte Schulter zeigt, bewegt sich auf dem Felde der Glücksspielerei. Auf wen hört sie eigentlich noch? Und haben wir das gewählt? Ja, es gab genug, die es gewählt haben. Auch ziemlich ungesund.
Ein gerüttelt Maß an Fachwortschatz wird heute auch verbraucht, um neue journalistische Produkte unters Volk zu bringen. Einfach Zeitung lesen oder fernsehen war gestern. Anbiederei mittels scheinbarer Einweihung des Publikums heißt die Parole. Bunte Blätter, die seriöser werden wollen, lassen wissen, ihre Nacktstrecken würden nunmehr kürzer. Da in diesem Blatt die Nacktstrecke stark zu wünschen übrig lässt: Es handelt sich um Fotos unbekleideter Personen in meist widernatürlicher Verrenkung.
Als Kerner jüngst den Sender wechselte, erfuhren wir über seinen neuen großen Plauschangriff ebenfalls Intimes: Es werde Nutzwertbeiträge, Crosspromotion und Einspielfilme geben. Daran verwundert, dass offenbar von vornherein nur Teilbeiträge der Sendung von Nutzen sein sollen. Unter Crosspromotion versteht man übrigens die Absprachen im Kartell der Moderatoren: Kommst Du in meine Sendung, komme ich in deine Sendung. Nützlich ist das wirklich selten.
Wenn alle alles wissen, wissen sie in Wahrheit leider nichts.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.