Todesstrafe in Russland abgeschafft
Entscheidung des Verfassungsgerichts / Mehrheit der Bevölkerung für Exekutionen
Die Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts zum Bann der Todesstrafe ist durchaus eine juristische Sensation. Denn Michail Krotow, der Vertreter von Präsident Dmitri Medwedjew beim Gericht, hatte lediglich für die Beibehaltung des Moratoriums plädiert, mit dem die Duma 1998 die Todesstrafe aussetzte. Das Parlament kam damit einer jener Kernforderungen nach, von deren Erfüllung der Europarat zwei Jahre zuvor die Aufnahme Russlands als Vollmitglied abhängig gemacht hatte. Eine definitive Entscheidung wollten die Volksvertreter erst fällen, wenn in allen Regionen Geschworenengerichte ihre Arbeit aufgenommen hatten. Auch in Tschetschenien, das sich 1991 von Moskau losgesagt hatte und erst zehn Jahre später zurück unter das Dach der russischen Verfassung gezwungen wurde. Da auch dort ab Januar 2010 Laienrichter über Schuld oder Unschuld von Angeklagten befinden werden, hatte der Oberste Gerichtshof in Moskau am 30. Oktober die Verfassungshüter angerufen und um Klärung gebeten, ob die Todesstrafe künftig wieder praktiziert werden darf.
Das Urteil wurde mit großer Spannung erwartet, Prognosen wagte niemand, denn an nichts anderem scheiden sich die Geister hier in Russland mehr als an der Todesstrafe.
Für die Abschaffung ist nur eine kleine Minderheit: Bürgerrechtler und liberale Intellektuelle wie Medwedjew und dessen Menschenrechtsbeauftragter Wladimir Lukin. Dieser gehörte vor seiner Ernennung zur Führung der sozialliberalen Jabloko-Partei, deren Programm sich an der Werteordnung westeuropäischer Demokratien orientiert. Bis zu 80 Prozent aller Russen sprachen sich dagegen bei Umfragen, die wiederholt zur Materie stattfanden, bei schweren Verbrechen für den elektrischen Stuhl oder gar den Strick aus und versprachen sich davon Abschreckung. Neben einfachen Bürgern auch Politiker aller Fraktionen, darunter Duma-Vizepräsidentin Ljubow Sliska, die für die Regierungspartei Einiges Russland im Parlament sitzt. Das letzte Mal unmittelbar nach der Anfrage des Obersten Gerichts. Bei positiver Entscheidung der Verfassungsrichter wollte Sliska in der Kirche sogar eine Kerze anzünden.
Das hat sich nun erübrigt. Dafür sind die Abgeordneten im Zugzwang. Denn sie müssen den Spruch der Verfassungsrichter in geltendes Recht umsetzen und dazu das Strafgesetzbuch ändern.
Künftig ist lebenslänglich die Höchststrafe. Dabei wird ein Zeitraum von 25 Jahren zu Grunde gelegt. Rechtskräftig Verurteile können den Präsidenten um Begnadigung bitten oder nach Verbüßung von zwei Dritteln des Strafmaßes Antrag auf vorzeitige Entlassung stellen. Dieser wird nur bei guter Führung, Reue und sozial nicht mehr gefährlichen Tätern genehmigt. Allerdings hält sogar die Mehrheit der Betroffenen die Todesstrafe für die bessere Lösung. Der Grund: haarsträubende Zustände in Knästen und Straflagern. Die meisten davon wurden bereits in der Stalin-Ära angelegt und befinden sich in extremen Klimazonen wie Sibirien und der Arktis.
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