Ein Mensch ohne Mehrwert ist nichts mehr wert

Die von Peter Sloterdijk angestoßene Debatte über den Steuerstaat rührt an das Selbstverständnis unserer Gesellschaft

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 8 Min.

Am Ende seines lesenswerten Essays »Die Revolution der gebenden Hand« (FAZ vom 10.6.2009) entwirft Peter Sloterdijk nicht weniger als eine Utopie. In einer zukünftigen Gesellschaft, deren Skizze der Karlsruher Philosoph hier zeichnet, wären die »Zwangssteuern« abgeschafft. An die Stelle steuerfinanzierter sozialer Staatsausgaben träten Geschenke der Wohlhabenden an die Allgemeinheit. »Diese thymotische Umwälzung hätte zu zeigen«, schreibt Sloterdijk, »dass in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.«

Gesellschaftliche Utopien sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus der Mode gekommen. Wo sie dennoch geäußert werden, ernten sie in der Regel zunächst Spott, um dann bald vergessen zu werden. Sloterdijks Traktat widerfuhr ein anderes Schicksal: Es wurde erst vergessen, Monate später sehr empört aus dem Papierkorb geholt und schließlich entfachte es eine ungewöhnlich hitzig geführte Debatte in den deutschen Feuilletons. Verwunderlich ist das nicht. Durch die politische Chronologie der jüngsten Vergangenheit ist dem Gedankenspiel des Philosophen eine akute Ernsthaftigkeit beigewachsen. Das »nur« Gedachte wirft plötzlich Fragen auf, die uns unmittelbar betreffen. Im Kern geht es dabei um den Umgang unserer Gesellschaft mit ihren schwächsten Gliedern.

Die von Sloterdijk vorgeschlagene Umwandlung des staatlichen Wohlfahrtsprinzips in ein Modell der freiwilligen Gabe entpuppt sich vor dem Hintergrund der realen politisch-ökonomischen Lage als weit mehr denn eine sozialpsychologische Utopie. Der Interessenkampf zwischen verschiedenen sozialen Schichten ist längst entbrannt. Selten allerdings hat er sich so deutlich artikuliert wie in letzter Zeit. Man denke an die Äußerungen Thilo Sarrazins im Gespräch mit der Zeitschrift »Lettre international«. Der einstige Berliner Finanzsenator und heutige Bundesbanker klagte darin über misslungene Integration, forderte den Abbau von Transferleistungen und verweigerte denjenigen, die selbst nichts leisten, seinen Respekt: »Jemanden, der nichts tut, muss ich auch nicht anerkennen.«

Zurück zu Sloterdijk, dessen Essay nicht nur aus dem utopischen letzten Absatz besteht. Diesem voraus geht zunächst ein geistesgeschichtlicher Abriss über die Kritik des Eigentums, der von Rousseau über Proudhon und Marx bis zu Lenin führt. »Der Letztgenannte«, lässt Sloterdijk jenen Teil seines Textes enden, »hat vorgeführt, was geschieht, wenn man die Formel von der Expropriation der Expropriateure aus der Sphäre sektiererischer Traktate in die des Staatsparteiterrors übersetzt«. Seinem Urteilsspruch über den nicht mehr real existierenden Sozialismus lässt Sloterdijk eine Abrechnung mit dem »steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus« unserer Tage folgen, der »Leistungsträger« schröpft, auch um seinen »unproduktiven« Gliedern ein Auskommen zu gewährleisten.

Es ist bedeutsam, dass Sloterdijks provokativer Text just zu Beginn des Bundestagswahlkampfs veröffentlicht wurde. Eine entutopisierte Vier-Wort-Fassung des philosophischen Essays war den ganzen Sommer über auf großformatigen FDP-Plakaten zu lesen, sie lautete: »Mehr Netto vom Brutto«. Mit ihrem Ruf nach Steuererleichterungen für den arbeitsamen, fleißigen, mithin »produktiven« Teil der Bevölkerung konnten die Liberalen auf ein weit verbreitetes Gefühl setzen: Der Staat bringt uns um die Früchte unserer Arbeit, wir bekommen nicht das, was wir verdienen.

Sloterdijk spricht vom modernen Steuerstaat als einer »Kleptokratie«. Der Dieb aber, als »Wohlfahrtsstaat« dingfest gemacht, geriert sich als »Robin Hood«: Was er den »Leistungsträgern« abknöpft, verteilt er an die Gemeinschaft, mit Vorliebe an die Armen. So fragwürdig diese Sichtweise angesichts der gigantischen Steuersummen ist, die in Reaktion auf die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise in die Sanierung von Banken und Unternehmen fließen, so verbreitet ist sie im berufstägigen Volk. Dass man selbst geschröpft wird, während die Arbeitsscheuen das Geld hinterhergeworfen bekommen, wird weithin als schreiende Ungerechtigkeit empfunden. Der Protest aber artikulierte sich bis vor Kurzem meist hinter vorgehaltener Hand.

Die Solidarität mit den Schwachen gehört zum mühsam antrainierten Selbstverständnis unserer Gesellschaft. An diesem Konsens zu kratzen, galt lange als Tabu: Peter Sloterdijk spricht von »politischem Dressurergebnis«. Anders sei das Ausbleiben des »antifiskalischen Bürgerkriegs« nicht zu erklären, in dem Sloterdijk die »plausibelste Reaktion« auf den staatlichen »Diebstahl« erkennen will.

Das steuerpolitische Gegenmotto zum FDP-Slogan »Mehr Netto vom Brutto« lieferte im Wahlkampf die LINKE: »Reichtum besteuern«. Während die Liberalen die Ungerechtigkeit in überhöhten Staatsforderungen gegenüber dem Einzelnen erkennen, streben die Sozialisten »soziale Gerechtigkeit« durch die geregelte Umverteilung des Reichtums von oben nach unten an. Dieser Forderung liegt das Wissen um die Herkunft eines großen Teils an Privateigentum zugrunde. Die hat mit »Leistungsgerechtigkeit« nichts zu tun. Darauf, »dass das rasch wachsende Geldvermögen von Teilen der bürgerlichen Klasse nur in geringem Umfang mit eigenen Leistungen und Anstrengungen, in viel größerem Maße aber mit dem Zufall der familiären Herkunft und den enormen Erträgen aus unproduktivem Eigentum zu tun hatte«, wies der Frankfurter Philosophieprofessor Axel Honneth in seiner harschen (leider in persönliche Anfeindungen ausufernden) Widerrede gegen Peter Sloterdijk hin (»Die Zeit« 40/09).

In den konträren Positionen von Liberalen und Sozialisten spiegelt sich ein alter Widerspruch: Das Ideal der Freiheit steht gegen jenes der Gleichheit, die Priorität des Eigentums gegen jene des Gemeinnutzes.

Die LINKE konnte am 27. September beachtliche Stimmzuwächse verbuchen, die FDP gelangte gar mit Rekordergebnis in die Regierungsverantwortung. Die einst so mächtige »Volkspartei« der Sozialdemokraten indes ist zwischen diesen Fronten nahezu zerrieben worden.

Als Ursache für den Niedergang der SPD ist das sich zusehends abschleifende Profil dieser Partei ausgemacht worden. Der Versuch der Sozialdemokratie, zwischen liberaler und sozialistischer Ideologie praktisch zu vermitteln, hat die SPD im Auge des Wählers zur Unkenntlichkeit verwässert. Im Schrumpfen der »Volkspartei« SPD und im Erstarken polarisierender Lager eine Repolitisierung der Gesellschaft zu erkennen, liegt nahe. Den Umkehrschluss zieht Richard David Precht, der sich im »Spiegel« (45/09) in Sachen Sloterdijk zu Wort meldete: »Seit die Sozialdemokratie, die erfolgreichste Partei Deutschlands, liberal wurde, hat sie alle anderen Parteien im Bundestag sozialdemokratisiert – außer vielleicht sich selbst.« Damit bescheinigt Precht der gescheiterten SPD den größten denkbaren Erfolg: Indem die politische Konkurrenz das sozialdemokratische Programm übernommen hat, verliert die Partei ihren Zweck.

Der angebliche sozialpolitische Konsens aber bröckelt augenscheinlich. Die Debatte um Peter Sloterdijks Text offenbart einen weltanschaulichen Riss, der sich vor dem Hintergrund von Globalisierung, Finanzkrise, staatlicher Überschuldung und sozialer Prekarisierung quer durch die Gesellschaft zieht. »Hören wir schon die Signale neuer Klassenkämpfe?«, fragt Ulrich Greiner (»Die Zeit« 47/09) angesichts der »gereizten Wortmeldungen von Peter Sloterdijk, Thilo Sarrazin, Heinz Buschkowsky und ihren Kontrahenten« rhetorisch überspitzend. Tatsächlich anzunehmen ist, dass weder die schwarz-gelbe Regierungspolitik, noch elitäre verbale Kampfansagen an die Nutznießer des »Wohlfahrtsstaates« zur Sicherung des sozialen Friedens beitragen. Von einem Aufstand der sozial Abgehängten ist bislang wenig zu spüren – weil es ihnen »zu gut« geht? Aber auch ein »Klassenkampf von oben« (»Die Zeit«), wie er Sloterdijk und seinen Adjutanten vorschwebt, könnte die Gesellschaft nachhaltiger spalten, als man es sich vorzustellen wagt.

Wer staatliche Sozialleistungen abbauen will, unterstellt einen unmittelbaren Zusammenhang von Wohlfahrt und Trägheit: Man muss den »Arbeitsscheuen« das Leben unbequemer machen, um sie zu Eigenleistungen zu motivieren. Als wäre die Welt voller Felder, die es nur zu beackern gilt. Als läge die bezahlte, finanziellen Gewinn verheißende Arbeit auf der Straße. Als würde die Wirtschaft dürsten nach Produktivkräften.

Die Wirklichkeit sieht anders aus: Der Arbeitsmarkt ist so satt, dass er laufend Menschen ausspuckt. Sie werden nicht mehr gebraucht – es sei denn, als Konsumenten. Wer den Überflüssigen einredet, selbst daran schuld zu sein, dass sie im Wettstreit um Geld und Anerkennung nicht mehr mitspielen dürfen, behaftet sie mit dem Ruch des individuellen Versagens. Wer ihnen ihre ökonomische Nutzlosigkeit als persönliche Verfehlung vorwirft, degradiert sie zu Menschen niederer Klasse, denen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zurecht verschlossen bleibt.

Eine Abschaffung staatlicher Wohlfahrt, wie Sloterdijk sie ins Gespräch gebracht hat, würde bedeuten, sich mit jener Zweiteilung der Gesellschaft in Flüssige und Überflüssige abzufinden, die es de facto längst gibt. Illusorische Ziele wie die Vollbeschäftigung oder die Integration gesellschaftlicher Randgruppen könnten unter diesen Voraussetzungen ad acta gelegt werden. An die Stelle sozialer Normen (etwa die Garantie der Menschenwürde) träte ein von Sloterdijk unterstellter »Stolz« des Spenders, der sich durch Almosen seiner Menschlichkeit versichert. Der Beschenkte indes verdankte sein Überleben der Gnade des Gebenden. Was diesen Almosen-Nehmer noch zur Menschheit zählte, ist unklar. Ein unmoralischer, aber logischer Schritt, der der Entwürdigung der Nutzlosen anstelle des Sloterdijkschen Geschenk-Modells auch folgen könnte, ist ihre Bekämpfung.

»Jeder, der ein menschliches Antlitz trägt, besitzt einen unendlichen Wert, egal wie viel oder wenig Geld er hat«, schrieb Johann Hinrich Claussen in seinem Beitrag zur Sloterdijk-Debatte (»Die Zeit« 48/09). Das sympathische Postulat des Hamburger Probsts allerdings rührt aus einer christlichen Ethik, die von der Logik des Marktes konterkariert wird. Kapitalistische Ökonomie kennt Zinsdruck und Profitzwang. Moral kennt sie nicht. Ohne bestimmte Wachstumsraten gerät das Wirtschaftssystem in eine existenzbedrohende Krise, schon Stagnation bedeutet Niedergang. Wirtschaft ist ständiges Streben nach mehr, nie bloßes Sein.

Wie sollte der Mensch, der nicht außerhalb der Ökonomie existieren kann, sich diesen Mechanismen entziehen, die mittlerweile fast alle Lebensbereiche erfasst haben? Welche Autorität garantiert ihm einen Wert, der »unantastbar« wäre, also nicht an die Bedingung geknüpft, ökonomisch relevanten Mehrwert zu schöpfen? Auf die Übermacht religiöser Gebote und ethischer Grundsätze gegenüber Marktprinzipien zu setzen, erscheint schon angesichts der heutigen Weltlage reichlich optimistisch. Zu einem starken, demokratisch legitimierten Staat als planend eingreifendem, die Gemeinschaft und das Individuum schützendem, aber auch fiskalisch zur Verantwortung ziehendem Regulativ gibt es derzeit keine ernstzunehmende Alternative. Utopien wie der des Peter Sloterdijk ist es zu verdanken, dass wir dies gewahren. Mögen sie sich nicht erfüllen!

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