Ich tue, was Linke tun: Ungerechtigkeit bekämpfen
Yossi Wolfson aus West-Jerusalem schreibt einen offenen Brief an die deutsche Linke
An meine Genossinnen und Genossen in Deutschland,
diese Anrede sollte ich wahrscheinlich klären. Habe ich als jemand, der, wie es scheint, von außen kommt, überhaupt das Recht, über Tendenzen in Organisationen, in denen ich nicht aktiv bin, eine Meinung, noch dazu eine kritische, abzugeben? Die Entwicklungen dieser Organisationen betreffen mich allerdings in mehr als einer Hinsicht.
Mein Vater ist in einem Schtetl in Ostpolen in eine proletarische jüdische Familie hinein geboren. Er wuchs in der Tradition des Bund, einer antizionistischen Arbeiterpartei mit stolzer jüdisch-nationaler Identität auf. Diese Partei war ein Katalysator für die Organisation der gesamten polnischen Arbeiterklasse. Meine Mutter ist in Freiburg in Deutschland geboren. Sie fühlte sich immer eng verbunden mit den liberalen Kreisen des deutschen Judentums, des Judentums eines Buber, eines Rosenzweig. Meine familiären Wurzeln verbinden mich daher sowohl mit der linken Bewegung, als auch mit Deutschland.
Als jemand, der ganz in linken Traditionen aufwuchs, tue ich, was Linke tun: Ungerechtigkeit bekämpfen, mich an die Seite der Unterdrückten und gegen die Herrschenden stellen, mich als Teil der Arbeiterklasse und gegen kapitalistische Ausbeutung positionieren, mich auf die Seite der Menschen in der »Dritten« Welt und gegen ihre Ausbeutung durch die reiche »Erste« Welt stellen. Ich habe gelernt, »nie wieder Krieg« zu fordern – außer den Krieg, der den Palästen gilt. Mir wurde gesagt, was einen Linken definiert: Internationalismus und Widerstand gegen Rassismus in allen seinen Ausdrucksformen und ein konsequenter Kampf gegen Unterdrückung.
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts hat dafür gesorgt, dass ich im Nahen Osten geboren wurde. Die jüdische Arbeiterklasse in Polen wurde fast vollständig ausgelöscht. Der staatliche Antisemitismus in Polen machte 1956 meinen Vater zum Flüchtling nach Israel. Auch die deutschen Juden wurden vernichtet oder zu Flüchtlingen, im Fall meiner Mutter bedeutete es das Exil in den USA. Meine Mutter ist später nach Israel emigriert – auf Grund der Illusion, dass dort eine fortschrittliche Gesellschaft aufgebaut würde, in der Gleichberechtigung herrsche. Erst Jahre später sind ihr Fakten über die Nakba und die Verhältnisse bekannt geworden, in denen die arabische Bevölkerung bis Mitte der 1960er Jahre in Israel unter Militärverwaltung leben musste. [...]
Auf dem Fleckchen Erde, wo ich lebe, geschieht die Ungerechtigkeit nicht subtil – sie schreit zum Himmel. Sie schreit zum Himmel aus den Flüchtlingslagern, aus der ungeheuren Armut, die in den palästinensischen Vierteln Ostjerusalems herrscht, aus der täglichen Willkür an den Checkpoints. Mit Schrecken sehe ich junge Israelis, die die Welt durch den Lauf ihres Gewehrs wahrnehmen und zu brutalen Bütteln im Dienst eines Regimes geworden sind, das unterschiedliche Gesetze für Juden und für Araber vorsieht. Die hochmütige Skyline aus Glas und Beton von Tel Aviv und die elenden Gassen in den palästinensischen Ortschaften, die wie das Schtetl meines Vaters von kleinen Händlern, Bauern, Tagelöhnern und Erwerbslosen bewohnt sind, lassen für mich keinen Zweifel, welche zwei Welten in dem kleinen Stück Land am Mittelmeer, das sich nicht entscheiden kann, ob es zum Osten oder zum Westen gehört, aufeinander prallen.
In meinem tiefsten Herzen habe ich nie daran gezweifelt, und auch keiner meiner linken Freunde hat je daran gezweifelt, was es unter solchen Bedingungen heißt, ein Linker, eine Linke zu sein: immer in Opposition gegen die Unterdrückung der israelischen Regierung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Es war uns immer klar, dass links zu sein bedeutete, solidarisch mit der palästinensischen Widerstandsbewegung, v.a. mit linken Gruppierungen, zu sein und mit ihnen den Diskurs zu führen. Die israelische Linke ist sehr pluralistisch. Man findet unterschiedliche Herangehensweisen, Analysen und Strategien, aber der Widerstand gegen den israelischen Militarismus und die Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser ist allen gemeinsam.
Nie hatte ich auch nur den geringsten Zweifel, dass der Kampf gegen Unterdrückung der Palästinenser auch ein Kampf für die Juden in diesem Land und weltweit ist. Die aggressive Politik der israelischen Regierungen verurteilt das jüdische Volk in Israel dazu, »auf dem Schwert«, wie wir es ausdrücken, und auf unabsehbare Zeit mit der Gewalt zu leben. Als Jude kann ich mich mit revolutionären Juden identifizieren, die Hand in Hand mit anderen Nationen an der vordersten Front des Kampfes für Gerechtigkeit gestanden haben. Jetzt aber stellt die Regierung des »Judenstaates« das jüdische Volk an die vorderste Front des Krieges zwischen dem reichen Norden und dem armem Süden. Das ist auch für das jüdische Volk keineswegs von Vorteil. Und ich frage Euch: Ist das wirklich der Weg, Antisemitismus zu bekämpfen? Als Linker liegt es für mich auf der Hand, dass mein Widerstand gegen die Politik der israelischen Regierung, des israelischen Staates unmittelbar zusammenfällt mit der Solidarität mit meinen jüdischen Brüdern in Israel und überall, dass ich zu diesem Kampf sogar im Namen dieser Solidarität verpflichtet bin.
Als Linker hat man es in Israel nicht immer einfach. Natürlich, die Juden unter uns (und vor allem die mit europäischem Hintergrund) genießen viele Privilegien, und man kann die Risiken, die wir eingehen, nicht mit dem Preis vergleichen, den palästinensische Linke zahlen. Und trotzdem wurden auch von uns schon viele wegen ihrer politischen Aktivitäten von den Sicherheitskräften festgenommen, verprügelt, verhört und gedemütigt. Die Einschränkungen der Rede- und Demonstrationsfreiheit sind systematischer Art, und immer häufiger tragen viele meiner Freundinnen und Freunde Narben davon, die ihnen durch die Geschosse israelischer Soldaten zugefügt wurden.
Ich wusste aber immer, dass die internationale Linke solidarisch hinter uns steht. Ich wusste immer, dass ich von linken internationalen Bewegungen nicht nur Zustimmung und moralische Unterstützung erwarten kann, sondern ganz reale Unterstützung. Die israelische Regierung reagiert sehr empfindlich auf die internationale öffentliche Meinung. Der Staat Israel ist abhängig von der politischen und wirtschaftlichen Hilfe vieler Staaten, und ich wusste, wenn meine Freunde und ich angegriffen werden, muss das israelische Außenministerium mit ernsten Nachfragen rechnen. Ich wusste, wenn die europäischen Regierungen und die der USA von Israel keine Zurückhaltung fordern, müssen sie in ihren Ländern mit Demos und Protesten von meinen linken Freunden rechnen. Diese Sicherheit und dieses Vertrauen in die internationale Solidarität hat mir immer Stärke und Hoffnung gegeben.
Wenn ihr Euch die Mühe gegeben habt, bis hierhin zu lesen, wird Euch der Schock, den ich bei meinem letzten Deutschland-Besuch erlebte, nicht überraschen. Da wurde mir nämlich klar, dass es in der deutschen Linken eine lautstarke Gruppe gibt, die die Solidarität mit meinem Kampf als antisemitisch bezeichnet und mich selber als einen mit Selbsthass infizierten Juden. Wie in einer auf den Kopf gestellten Welt werden die israelischen Generäle-Politiker, die die Unterdrückung in den besetzten Gebieten ins Werk setzen, und der extrem liberalen bzw. rechten israelischen Regierung an die Macht geholfen haben, von diesen Leuten innerhalb der deutschen Linken zu Helden erklärt. Der israelische Soldat, der seine Aufgabe, die Zivilbevölkerung zu unterdrücken, erfüllt, ist für gewisse deutsche Linke ein Vorbild. Während ich gegen das militärische Vorgehen der israelischen Regierung demonstriere, wird diese nicht nur von den Herrschenden in Westeuropa und den USA unterstützt, sondern auch von Demonstranten in Westeuropa, die sich als Nachfolger von Karl Marx verstehen. Fassungslos höre ich diese Dinge, lese die Publikationen dieser deutschen Linken und frage mich, ob ich mich nicht in einen Albtraum verirrt habe. Wie kann es sein, dass solche Stimmen aus der deutschen Linken kommen, die für mich immer ein Vorbild war, eine legendäre revolutionäre Kraft zu sein schien, die den wahren antikolonialistischen Kampf führte und sich im solidarischen Bündnis mit Migrantinnen und Migranten befand. Wie kann es sein, dass diejenigen, die sich in der Nachfolge von Marx, Luxemburg, Adorno wähnen – einen Krieg unterstützen, die wahllose Tötung von Zivilisten, wirtschaftliche und politische Ausbeutung und Unterdrückung, Apartheid und Kolonialismus! Was man aus der Ferne sieht, sieht man aus der Nähe nicht. Denkt man in Deutschland wirklich, dass die Unterstützung der Politik der israelischen Regierung, eine für beide, Palästinenser und Juden verheerende Politik, der Königsweg ist, den Antisemitismus zu bekämpfen? [...]
Es ist möglich, eine offene Debatte über die Politik im Nahen Osten zu führen. Das sollte aber nicht bedeuten, dass die Grundannahmen von Internationalismus und der Ablehnung von Kolonialismus und Unterdrückung aufgegeben werden. Man kann durchaus auch mit Leuten diskutieren, die diese Grundannahmen nicht teilen, aber man muss wissen, dass sie nicht zu trennen sind von einer linken Identität. Und wer sie fallen lässt, kann von sich nicht beanspruchen, ein Teil der Linken zu sein.
So kann man in der linken Bewegung und in der LINKEN mit Gruppen wie BAK Shalom über deren Agenda diskutieren, aber dabei darf die Tatsache nicht verschleiert werden, dass es eine rechte Agenda ist. Und eine Gruppe mit einer solchen Agenda kann auf keinen Fall integraler Teil einer Partei sein, die sich den anspruchsvollen Namen DIE LINKE gegeben hat.
Mit solidarischen Grüßen, Yossi Wolfson
Im Sommer 2009 besuchte er Freunde in Deutschland und war fassungslos über die pauschale Solidarität deutscher Linker mit Israel. Dies nahm er zum Anlass für den hier dokumentierten Brief.
Im Januar erscheint dieser ungekürzt in dem von Sophia Deeg und Hermann Dierkes herausgegeben Sammelband »Bedingungslos für Israel?«, Neuer ISP Verlag.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.