»Sterbelehrer«

DT: Gregor Gysi traf Christoph Schlingensief

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Er sei ein »Sterbelehrer« geworden, sagt Gysi zu Christoph Schlingensief – seinem Matineegast im Deutschen Theater am vergangenen Sonntag (»Gregor Gysi trifft Zeitgenossen«). Die Krebserkrankung des Regisseurs, ungehemmt offen öffentlich gemacht auf dem Theater und im Buch »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!«, hat ihn zum Ratgeber werden lassen, zum Tröster, zur Fantasiefläche fürs Mitleiden – jedenfalls werden die wenigsten von den so Vielen, die ins DT kamen, Freunde von Schlingensiefs Kunst sein. Ein paar Filmausschnitte kübeln zur Einstimmung Blut (»Kettensägenmassaker«, »Terror 2000«), dann bezaubert der Aktionskünstler mit grandios mäandernden Geschichten, parodiert Luc Bondy, Frank Castorf, die Wagner-Familie.

1960 wurde der Apothekersohn geboren, bezeichnenderweise in Oberhausen, damaligem Quellort einer manifestativ neuen deutschen Filmsprache. Ein Messdiener-Schicksal, das musste zur Kunst führen. Katholische Neurose traf irgendwann auf befreienden Ausbruch; das Geknebelte einer Psyche suchte süchtig nach Räudigem, Anstößigem. Der Vater hatte einen 8-mm-Urlaubsfilm falsch geklebt, »über unsere Bäuche liefen plötzlich Leute – da war er, der mich dauerhaft beschäftigen würde: der Perspektivwechsel, die schöne Behauptung: Ich sehe was, was du nicht siehst.«.

Er erzählt von Wim Wenders, der ihn an die Filmhochschule bringen sollte, von Helge Schneiders Leben in zwei Garagen, vom tollen Chaos, als er ein Aufnahmeleiter bei der »Lindenstraße« war, vom Filmstar Helmut Berger, der auf Schlingensiefs Kosten teuersten Rotwein im Hotelzimmer verteilte. Ein Anekdotenschatzmeister, extrem verschwenderisch. Ob Galeristenunwesen am Prenzlauer Berg oder Verhaftungsgaudi bei der Documenta. Zwischendurch Kernsätze: »Ein Avantgardist, der wirklich etwas vermitteln will, ist keiner ... Wer sagt, er hätte die Welt begriffen, und die Geschichte sei durchschaubar, dem glaube ich nicht – Hitler ist ausgeweidet von Historikern, er bleibt ein Rätsel.«

Schnelldurchlauf einer künstlerischen Biografie, Gysi arbeitet seine Kleinkartons mit den Fragen ab. Er ist Stichwortgeber, kein Gesprächspartner, aber aus jeder Frage entwickelt Schlingensief umgehend einen brillanten Erzählmonolog. Er hat den Nazi Kühnen zur Bühnenfigur erhoben. Er rief »Tötet Helmut Kohl!« Er gründete die Partei »Chance 2000«. Mit dem Big-Brother-Modell kitzelte er in Wiens Zentrum die »Ausländer raus!«-Moral aus den Leuten heraus. In seinen Zürcher »Hamlet« holte er Neonazis. »Talk 2000« erhob das Schnatter-Genre zur irrwitzigen Chaos-Feier. Seine schonungslose Art, sich unverstellt zu geben, riss jeden in die Unsicherheit – Gestaltung oder totaler Selbstverlust? Schamane, Kitachef aller Erwachsenen, ein begnadet barbarischer Techniker des Tumults. Er war oft hochgradig peinlich in seiner öffentlich zur Schau gestellten Privatheit, aber er war damit derjenige, der uns jenen Terror des Privaten, mit dem Öffentlichkeit medial durchätzt ist, so sehr bewusst machte.

Ob er ein Provokateur sei? »Nein, ich habe meine Arbeit immer als Forschungsanstalt begriffen, mir ging es um die Entdeckung metaphysischer Momente, wo alles, was man auf der Bühne macht, plötzlich eine andere Dimension bekommt.« Viel hat er so geforscht, und lange. »Aber metaphysische Momente, die gab's höchstens zwölf Sekunden lang.«

Vom Krebs und dessen Folgen auf sein Leben spricht er geradezu sprudelnd. Er habe wahrscheinlich, so Schlingensief, als er in Bayreuth inszenierte, das »Weltabschiedswerk« Wagners näher an sich herangelassen, »als es mir zuträglich war«. Den Tod, »immer diese Suche nach der eigenen Wunde«, dieses fortwährende »Zum letzten Mal«. Und dann die fehlenden Schutzpanzer, sein kaum eingeübte Professionalität im Umgang mit dem Opernbetrieb.

Das Immunsystem, das beim Krebs nicht mehr funktioniere, sei ein wesentlicher Teil des Ich. »Wenn es schwach wird, dann hat da jemand gegen sein Naturell verstoßen.« So werde dem Krebs eine Tür geöffnet. Leider ziele die landläufige Medizin nicht auf das, was sie mit den Künsten verbindet: auf den ganzheitlichen Menschen und eine Behandlung, die jedes Organ in Beziehung setzt zu diesem ganzen Menschen. »Der Krebs hat eine Gesicht, das Gesicht hat mit mir zu tun, ich muss mich ehrlich anschauen und prüfen: was ich mir leisten kann, um nicht von Ängsten aufgefressen zu werden.« Anerkennungsängste, Mithalteängste, die Angst davor, in der Schule des Lebens nicht oft genug die Hand zu heben, wenn die unsinnigen Mitarbeitszensuren verteilt werden.

Jeder Gesunde möge bedenken, dass er ein zukünftiger Kranker ist, und jeder Lebende sei ein künftiger Toter. »Dies Wissen ist die Kraft, genauer das zu suchen, was mich ausmacht. Das ist bei mir nun nicht mehr viel, aber die Freiheit, gut zu sich selber zu sein, ist doch noch groß.« Jetzt spricht, predigt (mit geradezu hellem anspornendem Gemüt) ein Kritiker der »durchimmunisierten Gesellschaft« (Peter Sloterdijk), in welcher der Krebs im Kommen sein – weil das größte Problem die Verstellung sei, die Maske, »tief drinnen ist dann die Störung, denn der Mensch weiß doch, dass er das meiste nicht aushält«.

Er liest Meister Eckart, ist glücklich jung verheiratet, und er wird in Burkina Faso ein Opernhaus bauen (wir sehen Bilder des Projekts, einen Film über seinen schwarzen Freund, den »sozialen Architekten« Francis Kéré). Auch Pläne für eine Inszenierung von »Tristan und Isolde« gibt es.

»Sterbelehrer«. Das ist, wer Lebensschüler bleibt. Schlingensief ist neunundvierzig. Er blieb das große (behütet wirkende!) Kind. Er erzählte an diesem Vormittag vom wirren dirty TV-Talk mit U-Bahn-Passagieren, vor Jahren, den habe er gestartet, weil er damals in eine unangenehme Phase des Gelobtwerdens, der Übereinkünfte geraten war. »Das ist bei mir zwanghaft – wenn ich durch Lob und Güte vereinnahmt werde, muss ich diesen Zustand zerstören.« Der Zustand ist wieder da, das Schicksal beförderte ihn: Schlingensief, ein Geliebter. So ist das Leben, wenn es auf dem Spiel steht, das kein Spiel mehr ist. Wie wohl wird die Kunst dieses Magiers der Selbst-Blöße künftig sein?

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