Weihnachtspolitisches Happening
1966 spazierten Demonstranten gegen den Vietnamkrieg über den Kurfürstendamm und düpierten die Polizei
Am 10. Dezember 1966, dem Tag der Menschenrechte, kommt es in der Westberliner Innenstadt zu einer Demonstration gegen den US-amerikanischen Krieg in Vietnam. Ein breites Bündnis hatte dazu aufgerufen, darunter die Kampagne für Abrüstung, die Christliche Friedenskonferenz, der Argument-Club, der Liberale Hochschulbund und der SDS.
An der Auftaktkundgebung am U-Bahnhof Spichernstraße im Stadtteil Wilmersdorf beteiligten 2000 Menschen. Der Polizeipräsident hatte lediglich eine Route durch eine menschenleere Straße abseits des während der Weihnachtseinkäufe belebten Kurfürstendamms genehmigt. Das gefiel einem aktivistischen Teil der Teilnehmer überhaupt nicht, wollten sie doch endlich ihre Auseinandersetzungen mit dem Vietnamkrieg aus der Universität in die Stadt verlagern. Dabei war ihnen völlig klar, dass Diskussionen wie auch Demonstrationen wirkungslos bleiben, solange sie in konventionellen Formen verlaufen. Das politische Anliegen der Polizei, die von ihr beschützte Demonstration zu einem Alibi für die »pluralistische« Gesellschaft zu transformieren, sollte durchkreuzt werden.
Unter Parolen wie »Weihnachtswünsche werden wahr – Bomben made in USA« oder »An toten Vietnamesen soll die Welt genesen!« versuchten rund 200 Studenten, unmittelbar nach Beginn der Demonstration abweichend von der genehmigten Route im Laufschritt Richtung Ku'damm durch die Polizeiketten zu brechen. Doch nach den Erinnerungen des Kommunarden Ulrich Enzensberger wurden die in Richtung Kurfürstendamm strebenden Ausreißer »von der Polizei gehetzt und auseinandergeprügelt«. Dennoch sprach sich auf der Abschlusskundgebung auf dem Wittenberg-Platz die Flüsterparole herum, für weitere Aktionen nach Charlottenburg zum Kranzler-Eck zu ziehen.
Sich spontan versammeln und wieder zerstreuen
An diesem Treffpunkt hatten schon Mitglieder der Kommune einen Weihnachtsbaum mit dem Sternenbanner und einem Plakat »Spießer aller Länder vereinigt euch!« drapiert sowie zwei Pappmache-Köpfe aufgestellt, die den US-Präsidenten Lyndon B. Johnson sowie den Staatsratsvorsitzenden der DDR Walter Ulbricht zeigten. Die Kommunarden erklärten ihre Initiative zu einem weihnachtpolitischen Happening, skandierten »Hey, hey, LBJ – how many kids did you kill today?«, setzten benzingetränkte Strohhüte der beiden Puppen in Brand, stimmten Weihnachtslieder an und warfen Konfetti in die Menge. Die Polizei verlor die Übersicht und verprügelte wahllos auch harmlose Schaufensterbummler. 76 Personen wurden arrestiert.
Durch die politischen Instanzen der Stadt ging ein Aufschrei der Empörung über den durch Studenten und Kommunarden angerichteten politischen Frevel. Die »Welt am Sonntag« gab kurz angebunden den politischen Rat: »Schmeißt die Störenfriede doch endlich raus und sorgt für Ruhe«, und die »Bild«-Zeitung empfahl den Gummiknüppel fortan als »das Beruhigungsmittel für den Fall missbrauchter Meinungsfreiheit«.
Davon ließ sich der SDS jedoch nicht einschüchtern. Er mobilisierte für den nächsten verkaufsoffenen Sonntag zu einem erneuten Spaziergang, diesmal gegen Polizeigewalt. Die »versteinerte Legalität lächerlich machen«, war das erklärte Credo dieser Aktion. In diesem Sinne wurden Flugblätter an die Passanten mit der Überschrift »Wir spazieren für die Polizei!« verteilt. Nach Erinnerung von Gretchen Dutschke nahmen die Passanten die Flugblätter gerne an und lachten darüber freundlich. Der Tagespiegel notierte, dass es mitunter schwer gewesen sei, harmlose Passanten und SDS-Demonstranten auseinanderzuhalten. Dennoch hielt auch hier die Polizei reiche Ernte und am Ende des sogenannten Spaß-Protests kam es zu 86 Festnahmen darunter Kinder, Hausfrauen, Rentner, aber auch die Korrespondenten der »Zeit« und des »Kölner Stadtanzeigers«, der FU-Professor Jacob Taubes, Rudi Dutschke und der Filmregisseur Alexander Kluge.
Solidarität von unbeteiligten Bürgern
Der gerade aus den USA zurückgekehrte Religionswissenschaftler Taubes zeigte sich in einem persönlichen Brief an den Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) über die Art und Weise des polizeilichen Vorgehens bestürzt, das er »als Augenzeuge nur als brutal und provokativ bezeichnen« könne. Weiter führte er aus: »In einem Land, in dem vor nicht allzu langer Zeit Träger staatlicher Uniformen die schlimmsten Verbrechen ausführten, sollten Uniformträger angehalten werden, sich streng im Rahmen der durch den Anlass erforderten Maßnahmen zu halten. Gebrüll, Festnahmen, Tätlichkeiten gegen lediglich diskutierende junge Studenten – das erweckt allzu böse Erinnerungen.«
Die beiden Spaziergangdemonstrationen fielen in einen historischen Moment, als in Bonn die Große Koalition unter Leitung von Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) die Regierung übernommen hatte. Das Kabinett stellte dabei ein bemerkenswertes Bündnis aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Gefolgsleuten (Kiesinger, Strauß und Schiller) sowie Verfolgten des NS-Regimes (Brandt, Wehner, Heinemann) dar. In dieser Situation hatte Rudi Dutschke auf der Abschlusskundgebung der ersten Spaziergangsdemonstration ausgerufen: »Die Zeit ist reif für eine neue Organisationsform der außerparlamentarischen Opposition. Lasst uns sofort damit beginnen.«
Mit den Spaziergängen war es den Subversiven in der Stadt gelungen, genehmigte Manifestationen in die Illegalität zu überführen. Ein Autorenkollektiv der führenden Zeitschrift der neuen Linken, das Kursbuch, stellte im April 1968 dazu lakonisch theoretisierend fest, dass offenbar »nur noch die bewusste Provokation die Gummiwände der verordneten Konfliktlosigkeit zu durchbrechen vermag. [...] So entwickelt sich eine auf geringen Verschleiß bedachte Taktik partisanenhafter Demonstration, die die Gummiknüppel lächerlich machen soll, statt ihnen die Schädeldecken darzubieten, deren Dicke bekanntlich bei verschiedenen Menschen außerordentlich verschieden ist. So entsteht die Spaziergangsdemonstration.«
Auch die Polizei zog ihre Lehren aus dem durch ihre uniformierten Einheiten angerichteten Debakel: Die Anzahl der zivil eingesetzten Greiftrupps wurde bei studentischen Demonstrationen massiv erhöht. Zusammen mit der anhaltend wutschnaubenden Berichterstattung der Springer-Presse sollte diese Entwicklung dann sechs Monate später zu dem Schusswaffeneinsatz des Kriminalhauptkommisars der Politischen Polizei Karl-Heinz Kurras gegen Benno Ohnesorg führen.
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