In der Blechbüchse geht die Sonne auf
Eine ganze Region ist Kulturhauptstadt 2010 – bis die Tage im Ruhrpott
Verschaffen wir uns erst einmal einen Überblick. Am besten vom Dach des Gasometers in Oberhausen aus. Mit 117,5 Metern Höhe und einem Durchmesser von 68 Metern ist es das Wahrzeichen der Stadt. 347 000 Kubikmeter Gas konnte die 1929 in Betrieb genommene größte »Blechbüchse« Europas speichern. Bis sie 1988 stillgelegt wurde und sich die Frage stellte: Was wird aus dem Koloss? Die naheliegendste Antwort hieß abreißen. Doch da hatten die Befürworter die Rechnung ohne die Bevölkerung gemacht. Für sie verkörperte das Gasometer ein wichtiges Stück Heimat, das man nicht einfach plattmacht. Viele Vorschläge gab es für eine neue Nutzung, sie reichten von einem Indoor-Golfplatz über ein riesiges Hochregallager bis hin zu der Idee, den Tank in die größte Coca-Cola-Dose der Welt zu verwandeln. Angeblich soll daraufhin aus der Zentrale in Amerika ein Fax in der Stadtverwaltung eingetroffen sein, in dem stand: »Wo liegt Oberhausen, was ist ein Gasometer, und solltet Ihr nicht lieber eigene Cola verkaufen?« Wenn ein so eindeutiger Verzicht auf Werbung für das Zuckerwasser aus Übersee auch mehr als unwahrscheinlich klingt, der Vorschlag war bald vom Tisch, genau wie alle anderen. Erst Anfang der 90er Jahre einigte man sich darauf, das Gasometer künftig touristisch zu nutzen. 16 Millionen D-Mark kostete der Umbau, seitdem ist die Blechdose am Rhein-Herne-Kanal eine ganz besondere Kultur- und Kunststätte und ein Anziehungspunkt für Besucher aus aller Welt.
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Niemand lässt sich dabei den Rundumblick aus luftiger Höhe entgehen. Ein gläserner Fahrstuhl im Inneren oder ein schweißtreibender Aufstieg über 523 Außenstufen führen aufs Dach, von wo man weit in die entstehende »Metropole Ruhr« schauen kann. Und staunen – zumindest, wenn man Ruhrpott-Frischling ist. Statt der vermuteten grauen Industrielandschaft liegt einem eine Region zu Füßen, die selbst im Winter weder trostlos noch langweilig wirkt. Man bekommt Lust, sich zwischen Duisburg, Hamm, Bottrop und Xanten zu Fuß oder mit dem Rad auf Erkundungstour zu begeben. Was übrigens problemlos möglich ist, denn es gibt hier zahlreiche Themenrouten, mehrere hundert Kilometer alte Industrietrassen wurden zu bequemen Rad- und Wanderwegen umgebaut, und über den Rhein-Herne-Kanal kann man im »Kulturboot« schippern oder sich die Veränderungen der einst geschundenen Region selbst paddelnd erschließen.
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Wir aber bleiben noch ein bisschen im Gasometer, um seine inneren Werte kennenzulernen. Konzerte, Feste, Theatervorstellungen und Ausstellungen finden hier regelmäßig statt. Bislang zogen mit 390 000 Besuchern die 13 000 von Christo und Jean-Claude 1999 in »The Wall« übereinandergestapelten Ölfasser die meisten Gäste an. Das hat die derzeit zu sehende Ausstellung »Sternstunden – Wunder des Sonnensystems« inzwischen locker übertroffen. Am 15. November des vergangenen Jahres konnte bereits der 400 000. Besucher begrüßt werden. Noch bis zum 30. Dezember kann man einen überaus kurzweiligen Spaziergang durch den Kosmos unternehmen, den mit 25 Meter Durchmesser größten künstlichen Mond auf Erden sowie ein paar Krümelchen echten Mondstaubs bestaunen und viel darüber erfahren, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.
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Bevor wir das Gasometer verlassen, will uns Dirk Seawetzki, ein Junge aus dem Ruhrpott, der gern Fremden seine Heimat vorstellt, noch ein besonderes Teil zeigen. Dafür steigen wir über eine Treppe gut vier Meter hoch auf die ehemalige stählerne Gasdruckscheibe, auf der viele Veranstaltungen stattfinden. Sie schwamm einst auf dem Gas und glitt, je nach Menge, die Wände auf und ab und hielt somit den Gasdruck konstant. Heute ist sie zwar verankert, aber nach wie vor sehr beweglich. »Wenn man auf ihr herumspringt, gerät sie in Schwingung und gibt ziemlich schrille Töne von sich«, erzählt Seawetzki. »Mir juckt es zwar in den Beinen, aber das lassen wir heute mal lieber, weil es die Ausstellungsbesucher stört.« So ganz können wir es dann aber doch nicht lassen, verkneifen uns zwar das Springen, aber ein paar schrille Pfiffe jagen wie von selbst durch den Riesenraum, brechen sich an der Wand und werfen wieder und wieder fantastische Echos zurück.
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Ehe wir als die Verursacher ausgemacht werden, verschwinden wir lieber und werfen noch einen Blick auf die Zeche Zollverein in Essen. Bis zu ihrer Stilllegung 1986 wurden im einst größten Steinkohlebergwerk Europas insgesamt 220 Millionen Tonnen des »Schwarzen Goldes« gefördert. Bis zu 8000 Bergleute arbeiteten bis in einer Tiefe von maximal 1200 Metern. Seit 2001 ist das bekannteste Industriedenkmal des Ruhrgebietes als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt. Hunderttausende kommen alljährlich zu vielen Veranstaltungen und zu Besichtigungen der alten Anlagen hierher.
An manchen Stellen, wie im Schacht XII, liegt bis heute noch Kohledreck. Genau dahin zieht es nicht selten die Enkel der Bergmänner zum Heiraten. So manche Braut ganz in Weiß und so mancher frühere Kumpel sollen schon in Tränen ausgebrochen sein, wenn sie den lange geheim gehaltenen Trauungsort sahen. Die Auserwählte, weil sie es so gar nicht romantisch zwischen rußverschmierten Loren und Stahlgerüsten fand, und der alte Mann aus Rührung und der Erinnerung an längst vergangene Zeiten. »Aber, dass deshalb je eine Hochzeit geplatzt wäre, habe ich noch nie gehört«, erzählt Seawetzki. »Schließlich sind wir im Ruhrpott, und da hält man Traditionen hoch.«
- Infos und Programm: RUHR.2010 GmbH, Brunnenstr. 8, 45128 Essen, Tel.: (01805) 45 20 10 (0,14 €/Min. aus dem dtsch. Festnetz, mobil abweichend), www.ruhr2010.de
- Die Eröffnungsveranstaltung am 9.1. wird ab 15.30 Uhr im ZDF live übertragen.
- Die Bahn bietet Sondertickets unter www.bahn.de/ruhr2010
- Literatur: Baedecker »Ruhrgebiet« mit speziellen Infos zu RUHR.2010, ISBN 978-3-8297-1182-1, 17,95 €.
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