Winterbereifte Hufe und Räucherfischpralinen
Mit zwei Usedomer Originalen unterwegs zwischen Villenromantik und Pommerscher Küche
Vito und Vagabund lassen sich weder vom Eis noch vom Wind beeindrucken. Mit stoischer Ruhe traben sie durch die verschneiten Straßen Ahlbecks, derweil sich ihre Chefin den Gästen zuwendet, die es sich im beheizten Kremser beim Glühwein gemütlich gemacht haben. »Keine Bange, die haben Winterreifen unter den Hufen. So schnell, wie die Autos hinter uns, kommen die mit ihren Spikes nicht ins Rutschen.«
Brigitte Will, eine waschechte Usedomerin, die seit mehr als 30 Jahren den Besuchern ihre Insel gewissermaßen vom hohen Ross her zeigt, kann hier über jeden Stein Geschichten erzählen. Zum Beispiel die, warum ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die drei Seeheilbäder Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin bei Königen, Unternehmern sowie den übrigen Schönen und Reichen immer größere Beliebtheit erlangten. »Die durften sich nämlich nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 nicht mehr im Ausland blicken lassen. Die englische Küste, wo sie bis dahin die Sommer verbrachten, waren für sie passé, nun waren Ferien in der Heimat angesagt.«
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Ob diese Erklärung der Geschichtsforschung standhält, lassen wir einfach mal dahingestellt. Richtig ist auf jeden Fall, dass insbesondere für die gut betuchten Berliner Usedom und insbesondere die drei Seebäder seit dieser Zeit zur beliebtesten »Badewanne vor der eigenen Haustür« wurden. Immer mehr prächtige Villen entstanden, jeder wollte den anderen in Pracht und Baustil ausstechen. Was daraus wurde ist die inzwischen viel bewunderte Bäderarchitektur, die ihresgleichen sucht. Heute stehen auf der 445 Quadratkilometer großen Insel, von denen 91 auf polnischer Seite liegen, 600 Häuser unter Denkmalschutz. Die meisten sind in den vergangenen 20 Jahren aufs Feinste saniert worden.
Zu DDR-Zeiten wurden viele Villen als Ferienheime von Betrieben und Institutionen genutzt, nach der Wende kamen entweder die Erben der Altbesitzer oder finanzkräftige Investoren. »Wenn heute die Reibung zwischen Daumen und Zeigefinger stimmt, kannst 'n Teufel tanzen lassen«, kommentiert Brigitte Will so manche Gäste. Aber auch Otto Normalverbraucher findet genügend bezahlbare Möglichkeiten, hier Urlaub zu machen. Immerhin gibt es in der Saison rund 60 000 Betten in Hotels, Privatquartieren und auf Campingplätzen.
Während die prachtvolle Bäderarchitektur entlang der 8,5 Kilometer langen Strandpromenade zwischen Bansin und Ahlbeck fast lückenlos in alter Schönheit erstrahlt, zeigt uns Brigitte Will ein paar Straßenzüge weiter Villen, die wahrlich schon bessere Zeiten erlebt haben. »Die meisten waren zur Wende noch bewohnt und in gutem Zustand. Seitdem weiß ich, wie man auch ohne Waffen Ruinen schaffen kann. Nämlich durch geldgierige Makler und verstrittene Erben«, so die 55-Jährige, die in Ahlbeck selber ein paar Ferienwohnungen anbietet.
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Vito und Vagabund sind am Heringsdorfer Bahnhof angekommen, der trotz des neuerlichen Baubooms wie schon vor 100 Jahren noch immer etwas abseits des Ortes liegt. »Das war im 19. Jahrhundert durchaus so gewollt, schließlich kamen die Leute zur Sommerfrische. Und da sollten sie weder durch den Lärm der Züge noch durch Ruß belästigt werden«, weiß Brigitte Will. Und auch heute genießen es die meisten Gäste, nicht vom Geräusch durchfahrender Züge geweckt zu werden.
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Wer den schön sanierten Bahnhof bestenfalls zum Ankommen und Abreisen nutzt, versäumt etwas Außergewöhnliches – das »Stellwerk«. Technikfreaks werden von ihm genauso begeistert sein, wie Feinschmecker. Jörg Gleissner, der auf Usedom geboren wurde und sich als Koch den kulinarischen Traditionen seiner Heimat verschrieben hat, nimmt die Gäste des Bahnhofsrestaurants mit auf eine Entdeckungsreise durch die Geschichte der Eisenbahn und die Küche des alten Pommerns. Sie sitzen in liebevoll zusammengetragenem Interieur aus uralten Zugabteilen der Ersten oder Zweiten Klasse, im Gepäcknetz liegen Hutschachteln, Koffer und Taschen, Signallampen weisen den Weg in Nebenräume, wo vom Fahrkartenautomaten von anno dazumal über die Uniform bis zur Knipszange des Bahnhofsvorstehers alles zu finden ist, was die Augen von Bahnnostalgikern zum Leuchten bringt. Und nicht nur große und kleine Jungs sind begeistert, wenn die Getränke von einer Modelleisenbahn an den Tisch gefahren werden.
Jahrelang hat sich Gleissner durch alte Zeitungen und Chroniken auf der Suche nach alten Pommerschen Gerichten gewühlt. Vieles von dem, was er fand, kann man im »Stellwerk« probieren. Beispielsweise Kidasch, eine Zusammenstellung von verschiedenen Vorspeisen wie marinierte Krebse, eingelegter Schafskäse, Senffrüchte, Honiglachs und Räucherfischpralinen.
So manches Gericht entdeckte der Koch in den verstaubten Speisekarten der Hotels und Pensionen aus der Jahrhundertwende. Wie beispielsweise die mit Bitterschokolade überzogene Räucherfischpraline, die den Gästen der 1908 erbauten Villa Tannenburg serviert wurde. Ob sie der Patissier oder der Koch erfunden hat, oder ob sie vielleicht sogar ein »Unfall« war, ist nicht überliefert. Wer sie allerdings probiert, wird überrascht sein, wie perfekt die scheinbar unvereinbaren Zutaten miteinander harmonieren.
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Wer will, kann mit Jörg Gleissner auch zu Fuß auf eine kulinarische Villentour gehen, die an der früheren Villa Tannenburg und heutigem Hotel Kastell am Ende der Swinemünder Strandpromenade beginnt. In seinen Erzählungen lässt er die von in- und ausländischen Gästen begehrte Pension in ihrer Ausstattung von vor 100 Jahren lebendig werden: Ein Restaurant mit großen Fenstern, die den Blick aufs Meer freigaben und vor Wind und Wetter schützten, Tische aus edlen Hölzern, rot bezogene Polstersessel vorm prasselnden Kamin, Salonmusik und vor allen die Bibliothek. Das Schmuckstück der Büchersammlung sei das bekannteste Kochbuch des 19. Jahrhunderts »Geist der Kochkunst« von Friedrich von Rumohr gewesen, erzählt Gleissner.
Mit dem hätte er gern übers Kochen philosophiert. »Entwickelt aus jedem essbaren Dinge, was seiner natürlichen Beschaffenheit angemessen ist. Das ist nur in den Gerichten der Provinz zu erkennen«, schrieb Rumohr. Ein Grundsatz, den sich der Inselkoch mit seiner neuen Pommerschen Küche zu eigen gemacht hat. Wobei er die alten Rezepturen nicht so schwer kocht, wie es früher üblich war. »Mir geht es darum, geschichtliche Werte in Form von Rezepturen und Gerichten aufzubewahren, sie aber nach dem heutigen ernährungsphysiologischen Erkenntnisstand zuzubereiten und weiterzuentwickeln«, erklärt er.
Viele bezeichnen Jörg Gleissner inzwischen auch als den Philosophen unter den Inselköchen. Wer ihn bei einem kulinarischen Villenspaziergang erlebt hat, glaubt das aufs Wort. Plaudernd geht's von Haus zu Haus, von jedem kennt er ein Küchengeheimnis, und irgendwann landet man unweigerlich wieder im »Stellwerk«, wo man sich die gerade gewonnenen küchen-geschichtlichen Erkenntnisse im wahrsten Sinne auf der Zunge zergehen lassen kann.
- Infos: Usedom Tourismus GmbH, Waldstraße 1, 17429 Seebad Bansin, Tel.: (038378) 477 110, E-Mail: info@usedom.de, www.usedom.de
- Pferdehof Will, Gothenweg 14, 17419 Seebad Ahlbeck, Tel.: (038378) 284 50, Fax: (038378) 479 54, www.pferdehof-will.de
- Restaurant Stellwerk, Wilhelmstr. 1, 17419 Seebad Ahlbeck, Tel.: (038378) 32 306, geöffnet Dienstag bis Sonntag ab 12 Uhr, E-Mail: info@culinaria-pommerania.de, www.culinaria-pommerania.de
- Weitere Infos: Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern e.V., Platz der Freundschaft 1, 18059 Rostock, Tel.: (0381) 40 30-500, Fax: -555, E-Mail: info@auf-nach-mv.de, www.auf-nach-mv.de
- Bis zum 28. Marz kann man in 135 Hotels und Pensionen des Landes »Kurzurlaub mit Langzeitwirkung« zum Preis von 55 bzw. 66 Euro buchen. Die gleichnamige Broschüre mit insgesamt 197 Angeboten ist beim Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern zu bekommen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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