»Ich will keine netten Worte«
Marianne Münz setzt sich seit zwanzig Jahren für das Mitspracherecht von Behinderten ein
Bad Kreuznach. »Nett« und »brav«. Das sind zwei Worte, die Marianne Münz wütend machen. Denn mit diesen zwei Worten schiebt man elegant Menschen beiseite, mit denen man nicht auf Augenhöhe diskutieren will. Aber Marianne Münz ist eine Kämpferin. Die 55-Jährige sitzt zwar im Rollstuhl. Sie spricht zwar nur schwer verständlich. Sie kann nur mit einer Hand die Tastatur des Computers bedienen. Sie hat erst mit 22 Jahren lesen und schreiben gelernt. Aber Beiseiteschieben und mundtot machen lässt sich die Vorsitzende des Gesamtwerkstattrates der Diakonie Werkstätten Bad Kreuznach längst nicht mehr. Auch deshalb hat sie gerade den Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz bekommen.
Zur Schule erst mit 22
Seit mehr als zwanzig Jahren kämpft Marianne Münz für die Rechte auf Mitsprache und Mitbestimmung von Menschen mit Behinderung in den Diakonie Werkstätten Bad Kreuznach. Sie ist Mitbegründerin eines der ersten Werkstatträte einer Behinderteneinrichtung Deutschlands. Damit hat sie den Behinderten bei ihrer Arbeit dort eine Stimme verliehen. Sie ist eine Pionierin, und sie macht klassische Gewerkschaftsarbeit dort, wo Gewerkschaften zu oft außen vor bleiben. Sie fährt zu Tagungen, hält Vorträge und bereitet Kongresse mit vor. »Ich will kein Theater, ich will keine netten Worte – die helfen nicht«, sagt sie. Sie will arbeiten können, sie will Mitsprache, sie will Gleichberechtigung. Sie will nicht Bitten müssen. Sie will Rechte.
Vermutlich durch Sauerstoffmangel bei der Geburt hat Marianne Münz eine Cerebralparese – früher nannte man solche Menschen Spastiker. Sie wuchs auf einem Bauernhof in einem kleinen Dorf bei Limburg an der Lahn auf. Ihre Eltern versuchten, das Mädchen zu behüten, wollten es nicht weggeben. Und so besuchte das Kind nie eine Schule. »Ich konnte weder lesen noch schreiben.«
Erst durch viele Zufälle, mit viel Glück und einer gehörigen Portion Ehrgeiz und Mut konnte Marianne Münz mit 22 Jahren zur Schule gehen. Sie machte ihren Hauptschulabschluss und wollte eigentlich nie in einer Behindertenwerkstatt arbeiten. Sie bewarb sich immer wieder auf Bürojobs. Unterdessen besuchte sie aber auch die Beschäftigungstherapie der Diakonie Werkstätten. Die Mitarbeiter dort meldeten sie ohne ihr Wissen für ein Arbeitstraining an: Der erste Arbeitsplatz war an einem Webrahmen.
Die Leitung war irritiert
Doch dann gab es plötzlich Computer, und Marianne Münz wusste, was sie wollte: einen Computer-Arbeitsplatz. Das schrieb sie der Werkstattleitung. Dort war man zunächst irritiert über das »Fräulein Marianne«, wie die Werkstattleitung sie damals nannte. Irritiert darüber, dass eine behinderte Frau sich dagegen wehrte, dass man Entscheidungen über ihren Kopf hinweg traf.
Es begann ein beiderseitiges Lernen. Marianne Münz hat gelernt, wie man sich gegen Bevormundung wehrt, aber auch dass man »mit Augenmerk auf den Einzelnen achten muss«. In der Werkstattleitung kam ein Prozess in Gang, der die Diakonie-Einrichtung zu einer der wegweisenden Einrichtungen in Sachen Mitspracherechte für behinderte Menschen gemacht hat. Marianne Münz und ihre Kollegen haben auch mit Unterstützung von Mitarbeitern der Diakonie Werkstätten den Mindestlohn für behinderte Menschen und Mitspracherechte durchgesetzt. Sie haben die erste Assistenzstelle für einen Werkstattrat in Deutschland erstritten.
Doch Marianne Münz weiß: »Ich muss mich immer wieder melden, um am Ball zu bleiben. Ich bin immer wieder in einer Bittsteller-Rolle. Ich will, dass die Arbeit des Werkstattrates genau denselben Stellenwert in der Werkstatt bekommt wie etwa eine Qualitätssicherung.« Dafür will »Frau Münz« – wie man sie längst nennt – weiter kämpfen.
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