Der Weg in die Beliebigkeit?
Pluralismus und Programmdebatte bei der LINKEN
Geht das zusammen: die Mitglieder der Linkspartei auf ein Grundsatzprogramm zu verpflichten und sich zugleich als »plurale« Partei zu definieren?
Zyniker könnten sagen: aber ja, denn wann spielte je ein Programm eine Rolle für die praktische Politik?! Die gegenwärtige Auseinandersetzung veranlasste Gregor Gysi u.a. zu der Feststellung, ein solcher Streit sei die notwendige Daseinsweise einer pluralistischen Partei. Bisher wurde dieser pluralistische Charakter damit begründet, dass sie weder Klassen- noch Weltanschauungspartei sei und auch kein Monopol auf Wahrheit beanspruche. Nun scheint der Pluralismusbegriff eine Inhaltserweiterung zu erfahren. Der ursprünglich nur auf unterschiedliche Weltanschauungen und Theorien beschränkte Pluralismus wird um die Pluralität politischer Positionen erweitert. Wie soll das gehen? Können die einen für und die anderen gegen Privatisierung, für oder gegen den Lissabon-Vertrag sein? Können die einen »hüh« und die anderen »hot« sagen?
Pluralismus ist nach marxistischer Auffassung eine unwissenschaftliche Ideologie, die eine gleichberechtigte Existenz mehrerer Theorien als notwendig betrachtet, weil wegen der Vielgestaltigkeit der Gesellschaft die Erkenntnis des Wesens dieser vielfältigen Erscheinungen durch nur eine Theorie und Methode unmöglich sei. Auf die Gesellschaft bezogen wird insbesondere deren Klassencharakter geleugnet, vielmehr würde eine Vielzahl unterschiedlicher Interessengruppen im freien Spiel der Kräfte gleichberechtigt um Lösungen ringen. Pluralismus ist damit der Gegenentwurf zum (relativen) Wahrheitsanspruch des marxistischen Monismus und der Klassenkampftheorie. Nachdem sich letzteres einst in der Bebelschen Sozialdemokratie durchgesetzt hatte, galt zugleich, dass Religion Privatsache sei.
Erst mit dem Aufkommen der Revisionismusdebatte erhob Eduard Bernstein den Anspruch auf die Akzeptanz eines theoretischen Pluralismus (im Rahmen einer von ihm weiterhin als marxistisch verstandenen Theorie) gegenüber Forderungen nach rückhaltlosem Bekenntnis zu bestimmten theoretischen Prinzipien. Für die Weimarer SPD wurden dann mehrheitlich die Abkehr selbst vom Bernsteinschen Marxismus und seine Ersetzung durch den Neokantianismus bestimmend, überlagert vom politischen Pragmatismus. Seit dem Godesberger Programm von 1959 war die weltanschauliche Pluralität (mit Ausnahme des Marxismus) in der SPD grundsätzlich verankert. 1970 bekräftigte Willy Brandt dies und erinnerte an Schumachers Wort, dass in der neu begründeten Partei nicht mehr von Belang sei, »ob der einzelne von der Bergpredigt oder von Kant oder von den Theorien von Marx ausgehe, ob er aus der Religion, der Philosophie oder der Gesellschaftswissenschaft schöpfe, sondern … ob er bereit ist und wie er bereit ist, mitzuwirken an einer vernünftigen, modernen, gerechten, menschenwürdigen Gestaltung der Verhältnisse«.
Für die Sozialdemokratie ist mithin ein Begründungspluralismus wesenseigen. Ihre geistigen Wurzeln benennt das geltende Programm mit Judentum und Christentum, Humanismus, Aufklärung und – den Jusos zuliebe – wieder mit marxistischer Gesellschaftsanalyse sowie den Erfahrungen der Arbeiterbewegung.
Verbunden damit ist stets die Forderung, aus der Übereinstimmung in den Grundwerten die Gemeinsamkeit des politischen Handelns abzuleiten. Aber wie die Praxis bewies, funktionierte dies nicht dauerhaft, innerparteiliche Disziplinierungsmaßnahmen griffen nur bedingt und erzeugten zusätzlich Personalquerelen. Wiederholte Krisen wurden nur dann überwunden, wenn es außer einem Programm zu Erfolgen als Opposition oder mitregierende Partei kam. Als diese ausblieben, geriet sie in die gegenwärtige tiefste Krise ihrer Geschichte.
Auf die Linkspartei bezogen, wirft das Pluralismusparadigma mehrere Probleme auf. Ihr Programm von 2003 definierte: »In der PDS wirken unterschiedliche, linke demokratische Kräfte zusammen. In ihr haben sowohl Menschen einen Platz, die der kapitalistischen Gesellschaft Widerstand entgegensetzen und die gegebenen Verhältnisse fundamental ablehnen, als auch jene, die ihren Widerstand damit verbinden, die gegebenen Verhältnisse positiv zu verändern und schrittweise zu überwinden. Unser Eintreten für einen demokratischen Sozialismus ist an keine bestimmte Weltanschauung, Ideologie oder Religion gebunden.«
In den seit der Vereinigung mit der WASG geltenden Programmatischen Eckpunkten wird der plurale Charakter einerseits erweitert und zugleich eingeschränkt. »Wir wollen unterschiedliche Auffassungen zur Analyse, Politik, Weltanschauung und Strategie, zu Widersprüchen und Gemeinsamkeiten produktiv aufgreifen und sie als Stärke der neuen Partei entwickeln. Die neue Partei ist plural, wie die Linke plural ist.«
Diesem Pluralitätsverständnis entsprechend vereinige die Linke alles, was »demokratisch und sozial, feministisch und antipatriarchal, offen und plural, streitbar und tolerant, antirassistisch und antifaschistisch, eine konsequente Friedenspolitik verfolgend« sei. Während kommunistische Kräfte unerwähnt bleiben, wurde Antikommunismus allerdings ausgeschlossen.
Aus der Pluralität der Objektbereiche, der Subjekte und Projekte die Notwendigkeit eines theoretischen und methodischen Pluralismus abzuleiten, ist nicht nur nicht zwingend, sondern kann sogar kontraproduktiv sein. Es ist mehr als bedenklich, wenn nicht zwischen Pluralität von Weltanschauungen, theoretischem Pluralismus und verschiedenen bis widersprüchlichen politischen Positionen in strategisch-taktischen Fragen unterschieden wird. Dies alles unter dem Begriff des Pluralismus zu subsumieren, weil Pluralität das konstitutive Prinzip der vereinigten Linken sei, und nur zu mehr »Einigkeit« und besserer politischer Kultur des Umgangs aufzurufen, dürfte nicht ausreichen.
Sieht man von den personellen Animositäten ab, geht es unzweifelhaft primär um das theoretisch-programmatische Selbstverständnis der Linkspartei. Bleiben in dieser Frage wesentliche Divergenzen, dürfte die Einigkeit des politischen Handelns auf Dauer kaum garantiert sein und dürften Gefahren für die Gesamtorganisation entstehen.
Ungelöst ist also, wie sich weltanschauliche Pluralität und persönliche sozialistische Überzeugung einerseits und die These von Pluralismus bei der Erarbeitung und Begründung sozialistischer Programmatik andererseits zueinander verhalten.
Schon im »Kommunistischen Manifest« heißt es, dass die Kommunisten keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien seien und keine getrennten Interessen verfolgen, wird die Pluralität der Bewegung vorausgesetzt. Aber der Kern dieser Parteiauffassung ist es, stets das Gesamtinteresse der Gesamtbewegung zu vertreten. Was eine solche Partei von den anderen unterscheide und sie befähige, diese Rolle zu spielen sei: Sie habe theoretisch der übrigen Masse die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus. Das ist – wie Marx selbst demonstrierte – natürlich alles andere als ein dogmatischer Anspruch auf ewige und alleinige Wahrheiten.
Bei selbstverständlicher Anerkennung ihres weltanschaulich pluralen Charakters gehen nicht nur die Marxisten und Kommunisten in der Linkspartei, sondern auch die Jusos der SPD bei der Analyse der Gesellschaft und der Begründung sozialistischer Politik davon aus, dass dies nur von einer der marxistischen Tradition verpflichteten Gesellschaftstheorie geleistet werden kann, und nicht durch einem Mix verschiedener »moderner« Denkschulen. Das kann als Anspruch auf ein »Wahrheitsmonopol« verteufelt werden, aber bei vielen »Wahrheiten« gibt es gar keine. Das auf Analyse beruhende Wissen ist Voraussetzung rationalen Handelns; sozialistische Politik ohne marxistische Theorie, ohne Dialektik und historischen Realismus ist ein Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, der – bleibt er mangels Marxismus unbegriffen – zur Krise des Politischen führt.
Ohne einen historisch-materialistischen Politikbegriff und eine dementsprechend begründete Strategie und Taktik kann eine linke Partei nicht lange existieren und koordiniert handeln. Sollen die Werte Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität nicht reine Floskeln und die Vision einer anderen Welt nicht Selbsttäuschung bleiben, sondern auch Handlungsanleitung sein, dann müssen ihr Inhalt und die Bedingungen ihrer Verwirklichung historisch-materialistisch begründet werden. Es geht mithin nicht um eine endgültige Entscheidung etwa für oder gegen Koalition, Tolerieren oder Mitregieren, sondern wann die eine oder andere Entscheidung der Lage entspricht. Ein so verstandener Pluralismus ist kein Hindernis für ein verbindliches Grundsatzprogramm.
Dieses sollte die eigene Identität definieren, das Selbstverständnis und die Stellung der Partei in der Gesellschaft benennen. Es sollte etwas zu den langfristigen Zielen sagen. Es sollte Grundlage für die jeweilige Strategie und Taktik und eine Art tagespolitischer Richtschnur sein. Es sollte die Kräfte benennen, welche Träger dieser Bewegung sind und deren Interessenvertreterin die Partei sein will. Und es sollte die Abgrenzung gegenüber anderen, insbesondere benachbarten Parteien sowie grundlegende Bedingungen für mögliche Bündnisse definieren.
Das Programm ist neben dem Statut das Dokument, welches allen Mandatsträgern die Grenzen ihres Handelns zeigt.
Kommt am Ende eines kulturvollen Streits ein Programm zustande, das dies leistet, dürften alle gelernt haben, dürften die Gemeinsamkeiten gewachsen sein, ohne dass die Pluralität verschwunden wäre. Man kann als ethischer Sozialist für Freiheit und Sozialismus sein, sollte aber konzedieren, dass Freiheit durch Sozialismus realistischer ist. Auch könnten sich Marxisten und Christen auf eine Grundwahrheit einigen, die schon in der Bergpredigt steht: »Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhangen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.«
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