Altenheimen geht die Jugend aus
Für Pflegeberufe gibt es immer weniger Azubis. In Mecklenburg-Vorpommern wirbt man sich Fachkräfte gegenseitig ab
Schwerin. Gertraud Zschöck ist erst 76 und fühlt sich eigentlich zu jung fürs Altersheim. Doch ein Schlaganfall vor zehn Jahren brachte sie ins Schweriner Augustenstift, eine evangelische Pflegeeinrichtung. »Ich brauche junge Leute um mich, mit ihnen kann man sich unterhalten«, sagt die alte Dame. Froh ist sie daher über jede Minute, die ihr die 20-jährige Rena Roffeis widmet, Auszubildende im dritten Lehrjahr. Bei steigendem Pflegebedarf macht sich der Nachwuchs in Mecklenburg-Vorpommerns Altenheimen rar. Der erste landesweite »Tag der Pflege« Ende Januar sollte auf das Problem hinweisen und für den Pflegeberuf werben.
»Tarif zahlen ist Luxus«
Für Rena Roffeis war ihr Berufswunsch logisch. Als Kind von den Großeltern umsorgt, weil der Kitaplatz zu teuer war, machte sie nach der Realschule ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Augustenstift. »Auf Praxiserfahrung legen wir größeren Wert als nur auf gute Schulnoten«, betont Daniela Pauluhn, stellvertretende Pflegedienstleiterin. Mit Sorge sieht sie den Rückgang an Bewerbungen. Noch könne das Haus jedes Jahr drei, vier Azubis zu einem Abschluss führen und anschließend fest übernehmen, wenn dann die jungen Leute bleiben wollten. Andere Einrichtungen klagen bereits über akuten Nachwuchsmangel. Ausbilden ist teuer und muss laut Gesetz auf die Pflegevergütung aufgeschlagen werden. Daher könnten jene, die nicht ausbilden, ihre Heimkosten niedriger halten und hätten Wettbewerbsvorteile.
»Im Zweifel werben sie Fachkräfte einfach ab«, sagt Frank-Holger Blümel, Geschäftsführer der Schweriner Sozius gGmbH und des Augustenstifts. Gut ausgebildete Pflegefachkräfte wanderten oft in besser bezahlte westdeutsche Einrichtungen ab. So wären die Fachkräfte in Alten- und Pflegeheimen im Nordosten heute im Schnitt weit jenseits der Fünfzig.
Auch 20 Jahre nach der Wende seien die Arbeitsbedingungen, insbesondere Entlohnung und Arbeitszeiten, im Osten weit weniger attraktiv. »Tarif zahlen ist Luxus«, sagt der Vorsitzende der Vereinigung kommunaler Pflegeeinrichtungen Mecklenburg-Vorpommerns, Uwe Reinhardt, in Stralsund. In der Regel gingen Azubis weg, »dorthin, wo sie Geld verdienen können«. In der Gehaltsstruktur gehöre der Nordosten zu den Schlusslichtern, bestätigt Claudia Appelt von der Caritas Altenhilfe (Stralsund und Heringsdorf).
Hanno Schuck, Geschäftsführer der Rostocker Heimstiftung, sorgt sich um die Gesundheit der Pflegekräfte. »Die Belastung steigt für die Mitarbeiter, und die Motivation nimmt ab.« Krankenstände und Fälle von »Burn-out« bei Pflegern und Dienstleitern nähmen zu, sagt er. Die Eröffnung neuer Einrichtungen verschärfe die Situation noch. »Wir werben uns gegenseitig Pflegefachkräfte ab«, meint Schuck. Doch die meisten Heime im Land könnten nur noch Haustarife zahlen. In Wismar haben die städtischen Pflegeheime Probleme, befristete Fachkräfte für Krankenvertretungen zu bekommen, so Leiterin Dagmar Broy.
Als »Beruf mit Zukunft« sieht René Schröder, Auszubildender im Augustenstift, die Altenpflege. Medizinische, therapeutische und Managementaufgaben gehörten zusammen und machten den Beruf sehr vielseitig. Zu Unrecht habe Pflege ein schlechtes Image unter Jugendlichen, meint der junge Mann. Es würde kaum noch jemand in einer Großfamilie aufwachsen und damit viel Kontakt zu alten Menschen haben, vermutet er als Grund für die seiner Ansicht nach wachsende Distanz der Generationen.
Bald 100 000 Bedürftige
Der Diakonie-Chef der evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, Landespastor Martin Scriba, sagt, allein in den 120 Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände schieden bis 2015 etwa 1000 Pflegekräfte altersbedingt aus. Pro Jahr würden aber nur 80 junge Leute ausgebildet. Laut Diakonie stieg von 1999 bis 2007 die Zahl der in Heimen oder Tageseinrichtungen betreuten Pflegebedürftigen landesweit um 42 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern leben nach Angaben des Sozialministeriums rund 57 000 pflegebedürftige Menschen, 16 000 davon in Heimen. In den kommenden Jahren werde sich die Zahl auf etwa 100 000 verdoppeln.
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