Die nukleare »Wüstenspringmaus«

Vor 50 Jahren zündete Frankreich seine erste Atombombe in der algerischen Sahara

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Tarnname »Gerboise bleue« (Blaue Wüstenspringmaus) klang harmlos, doch die Stärke der ersten französischen Atombombe, die am 13. Februar 1960 in der algerischen Sahara explodierte, entsprach vier Mal der von Hiroshima.

Die auf einem 100 Meter hohen Turm gezündeten erste französische Atombombe war 70 Kilotonnen stark, was der Sprengkraft von 70 000 Tonnen TNT entsprach. Das war deutlich mehr als jemals zuvor die USA, Großbritannien oder die Sowjetunion getestet hatten. So katapultierte sich Paris auf einen Schlag als ernst zu nehmender Akteur in den Kreis der Kernwaffenmächte. Das entsprach der Absicht von Präsident Charles de Gaulle, nachdrücklich die Unabhängigkeit Frankreichs und die internationale Rolle des Landes zu betonen. Es folgten im selben und im folgenden Jahr drei weitere oberirdische Versuche, wobei der letzte, ursprünglich später geplante, auf den 25. April 1961 vorgezogen wurde. Damit wollte de Gaulle verhindern, dass die einsatzbereite Bombe in die Hände der gerade in Algier gegen seine Regierung putschenden Generäle fällt.

Von 1961 bis 1966 wurden im Hoggar-Bergmassiv im Süden Algeriens 13 unterirdische Tests durchgeführt, die als sicherer und weniger umweltbelastend galten. Doch bei vier davon schlug die Explosion unkontrolliert bis zur Erdoberfläche durch und verursachte eine radioaktive Staubwolke, die große Territorien sowie Menschen, Vieh und landwirtschaftliche Erträge verseuchte. Da die Regierung des seit 1962 unabhängigen Algerien die Fortsetzung der Atombombenversuche auf seinem Territorium nicht genehmigen wollte, verlegte Frankreich sein Testgelände auf das Moruroa-Atoll in seinem pazifischen Überseeterritorium Polynesien. Hier fanden zwischen 1966 und 1974 zunächst 46 Versuche in der Atmosphäre statt, wobei Atombomben – ab 1968 gelegentlich auch Wasserstoffbomben – auf einem Ponton schwimmend oder unter einem Fesselballon schwebend gezündet oder von einem Flugzeug abgeworfen wurden. Jedes Mal bildete sich ein mehrere Kilometer großer Atompilz über dem Meer, der die gewaltige Vernichtungsenergie dieser Bomben ahnen ließ – und nur zu oft seine langfristig tödlichen Spuren bei Natur und Menschen hinterließ.

Ab 1975 und bis 1991 fanden unter dem Moruroa-Atoll insgesamt 141 unterschiedlich starke unterirdische Versuche statt. 1994 erklärte Präsident François Mitterrand ein Moratorium der französischen Atombombentests. Doch das hinderte seinen Nachfolger Jacques Chirac nicht, im Juni 1995 eine demonstrative, wenngleich als »abschließend« bezeichnete Serie von sechs Versuchen zu genehmigen. Das löste seinerzeit eine internationale Welle von Protesten aus.

Die letzte französische Atombombe detonierte im Januar 1996 unter dem Fangataufa-Atoll. Seitdem entwickelt Frankreich seine Kernwaffen durch Labortests und Computersimulationen weiter.

Militärs und vor allem Zivilisten, die am Rande von Atomtests Opfer mehr oder weniger starker atomarer Verstrahlung geworden waren, mussten viele Jahre lang um Anerkennung und Entschädigung kämpfen, und die meisten sind darüber längst gestorben. Der erste große Unfall passierte schon 1962 beim zweiten unterirdischen Versuch in der Sahara. Die Beton-»Versiegelung« des waagerecht in einen Berg getriebenen Stollens, in dem die Bombe explodierte, war mangelhaft und wurde herausgeschleudert. Eine riesige Stichflamme mit einer nachfolgenden nuklearen Staubwolke bedrohte Militärs und Zivilisten, darunter zwei Minister, die den Versuch aus »sicherer« Entfernung beobachten wollten und Jahrzehnte später an Krebs starben. Völlig unbeachtet und unaufgeklärt blieb das Schicksal der vielen Tausend algerischen Beduinen, die auch mit dieser Nuklearwolke in Berührung kamen.

Erst 2005 erkannte die französische Justiz erstmals die Ansprüche von Militärs an, die bei Tests in Moruroa aufgrund unzulänglicher Schutzmaßnahmen verstrahlt wurden, später an Krebs erkrankten und vom Staat Schadenersatzzahlungen forderten. Unter Berufung darauf haben Verbände von Atomtestopfern seitdem nachdrücklich die Bildung eines staatlichen Fonds verlangt, aus dem alle in- und ausländischen Opfer entschädigt werden können. Das ist erst im Januar dieses Jahres mit dem Inkrafttreten eines entsprechenden Gesetzes Wirklichkeit geworden.

In diesem Zusammenhang räumte der Staat ein, dass sich bei den 210 Tests in der Sahara und im Pazifik zwischen 1960 und 1996 insgesamt 150 000 Menschen in der Gefahrenzone befanden, dass viele von ihnen Gesundheitsschäden davongetragen haben und von diesen wiederum viele schon verstorben sind. Jetzt ist gesetzlich geregelt, wie und mit welchen Nachweisen Anträge bei einem Komitee einzureichen sind und nach welchen Kriterien dieses entscheidet. Mit den ersten Entschädigungszahlungen wird gegen Ende 2010 gerechnet.

Doch sie dürften bescheiden ausfallen, denn ein entsprechender Fonds wurde nur mit zehn Millionen Euro ausgestattet. Aber auch die Angehörigen von Verstorbenen können in den nächsten fünf Jahren noch Anträge stellen. Die Verbände der Opfer begrüßen das Gesetz, verweisen aber zugleich darauf, dass auch 50 Jahre nach dem ersten Versuch alle Akten dazu immer noch den Stempel »Streng geheim im Interesse der Nationalen Sicherheit« tragen.

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