Das tapfere Schneiderlein und die Riesen

Von heroischen Illusionen und späten Einsichten: »Kennung«, der neue Roman von Hermann Kant

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 9 Min.

Kennung: Ob es die eines Leuchtfeuers ist oder die auf einem Datenchip, Kennung wird zugewiesen, um etwas oder jemanden kenntlich zu machen. Kennung hat einen Zweck, nicht zu verwechseln mit dem philosophischen »Erkenne dich selbst« oder gar dem biblischen »Und sie erkannten einander«. Eine Art Kennung war zum Beispiel auch jene Marke mit einem Zahlen-Buchstaben-Code, die den Soldaten im Zweiten Weltkrieg um den Hals gehängt wurde, damit sie selbst bei Unkenntlichkeit noch identifizierbar wären. Die obere Hälfte blieb bei der Leiche, die untere wurde zur Registratur geschickt. Was die Lebenden von vornherein hätte erschrecken müssen, doch übersahen sie die Sollbruchstelle meist geflissentlich, nahmen das Blech noch als Vorgeschmack auf künftige Ehrenzeichen.

So ist der Mensch: Merkt erst, dass er keinen Kopf mehr hat, wenn der Henker ihn auffordert zu nicken. – Um solcherart Selbsttäuschungen geht es in diesem Roman, dem viele, viele Tage und Nächte vorausgegangen sein mögen, in denen das Herz beim Nachdenken bis zum Halse klopfte. Herzklopfen sei auch Lesern vorausgesagt – vielleicht nicht allen und auch nicht gleich. Die Lektüre ist mitreißend und vergnüglich, der existenzielle Ernst schmerzt noch kaum, so lange das literarische Spiel währt. Und das beherrscht Hermann Kant, wie man weiß, virtuos.

Sprache, die glänzt und schützt, immer und immer wieder poliert, aber unter der Oberfläche brodelt es. Die Einheit der Widersprüche schon im Stilistischen, in der Bemühung, vom Wort aufs Wort zu kommen, zu einer Leichtigkeit, in der nichts mehr von der Anstrengung des Formulierens ist. Wobei der Witz des Um-Die-Ecke-Denkens auch dem Schreibenden schon Genuss gewesen sein mag. Das Erstaunen immer wieder, was Sprache aus sich selbst heraus bietet, wenn man sich ihr öffnet – ein Wortstamm, viele Bedeutungen –, wie weit sich durch sie Gedanken verdichten lassen.

Auch Kants 400- bis 600-Seiten-Romane waren in diesem Sinne dicht, doch dieses Werk, das zu Beginn des Jahres 1961 spielt und nur wenige Tage im Leben eines jungen Literaten umfasst, scheint es noch mehr zu sein: Auf vergleichsweise engem Raum wird der Bogen gespannt von der Kriegszeit bis zur Gegenwart, vom Aufbruch in eine neue Gesellschaft bis zu ihrem Scheitern, das beim Lesen unwillkürlich mitgedacht wird. Um Künstlertum und Machtbehauptung geht es und um den Zwiespalt, in den einer gerät, der widerstreitende Interessen in sich vereinen will.

Linus Cord ist dabei, in einem Essay zwei Werke der Weltliteratur zu vergleichen: »Der Vorfall an der Eulenfluss-Brücke« von Ambroce Bierce und »Leutnant Yorck von Wartenburg« von Stephan Hermlin. Dabei wird er auf der ersten Seite dieses Buches unterbrochen; auf der letzten nimmt er seine Arbeit wieder auf. Die Unterbrechung beginnt mit Leutnant Czifra, der seine Klappkarte präsentiert und die Nummer von Cords Wehrmachts-Erkennungsmarke wissen will. Dass ihm keine Auskunft zuteil wird, überrascht ihn nicht, denn in seinem Ministerium gibt es einen Vermerk über Cords Äußerung im Schriftstellerverband: »ob die Sowjetsoldaten, die dich gefangen nahmen – warte mal das ist notiert –, weise oder närrisch handelten, als sie eure Soldbücher und Erkennungsmarken – nein, du hast Hundemarken gesagt – auf einen, wörtlich, hügelhohen Haufen warfen«. Wobei ihn, Czifra, die Erwägung weise oder närrisch – die Soldaten der Roten Armee hätten schließlich auf Weisung, auf Befehl gehandelt – nicht so sehr interessiere, wie die schlicht-vertrauliche Frage: »Du würdest nicht manchmal mit uns zusammenwirken wollen?«

Will Linus Cord keineswegs. Vielmehr hofft er, »künftig schreibe der eine nicht mehr auf, was der andere im Gespräch geäußert habe«. »So unterscheide sich eben die Kunst vom Leben oder seine Arbeit von anderer Arbeit«, kontert Czifra. Wie er denn seinen Vorgesetzten erklären solle, Cord wolle »auf der Basis als Genosse ein beträchtlicher Kritiker und kein beträchtlicher Mitstreiter gegen Lücken, Nöte und Schwächen werden«. Ob das eine das andere ausschließe und was ein beträchtlicher Kritiker überhaupt sei. »Einer, der in Betracht kommt, wo es um Meinung geht«, antwortet Cord. »Einer, der gilt.«

Womit eine Verbindung zum Autor hergestellt wäre, der manches unternommen hat, um nicht mit seiner Hauptgestalt verwechselt zu werden. Vieles ist ausgedacht. So wie es im einzelnen beschrieben ist, wurde es gewiss nicht erlebt. Cords Achillesferse – Verschweigen seines Geburtsdatums, um früher aus der Gefangenschaft entlassen zu werden – ist nun wirklich nicht die seine. Spätestens seit Kants Roman »Der Aufenthalt« weiß die Welt: Vier Jahre hat er in polnischem Zuchthaus und Lager abgebrummt für sechs Wochen im Krieg und hat's noch als gerecht betrachtet.

Aber sein Ehrgeiz: Hätte er ihn Cord nicht eingepflanzt, würde sich die Handlung nicht drehen. Diese Zuversicht, eine Situation zu beherrschen, diese Neugier, Vorgänge zu durchschauen, diese Neigung, eher zu handeln, als lange das Für und Wider abzuwägen, oder, positiv ausgedrückt, der Mut zu agieren, wo sich andere abducken würden. Czifras Bitte, im Dienste staatswichtiger Erkenntnis bei der Wehrmachtsauskunftsstelle in Westberlin die Nummer seiner Erkennungsmarke zu erfragen, hatte Cord weit von sich gewiesen. Um sich nächstentags schon auf den Weg der Erkundigung zu begeben. Aus freien Stücken, in eigenem Auftrag. Und sollte es ihm je langweilig gewesen sein, von nun an begann für ihn ein spannendes Leben.

Eine spannende Geschichte auch für den Leser, der Spionageromane mag, der den Alltag gern mit Fantastischem würzt, Zufällen und Zeichen nachgrübelt, all den Möglichkeiten, das Chaotische des Lebens zu ordnen, sodass sich aus vielen Puzzleteilchen ein System ergibt. Ein unwiderstehlicher Reiz für Leute mit Vorstellungskraft und Selbstbewusstsein, die folglich nicht erstaunt sind, dass die Realität gerade für sie – wie's scheint, für sie allein – zur Inszenierung gerät. Was Linus Cord auf dem Weg zu besagter Wehrmachtsauskunftsstelle widerfährt – die Grenze nach Westberlin war ja noch offen –, rief mir unwillkürlich meine Großmutter in Erinnerung, deren Leben voller Seltsamkeiten und Bedrohungen war: Leute, die in den Wänden saßen, rätselhafte Strahlen, vor denen man sich in Acht nehmen musste, und der Pfarrer hielt seine Predigt in vollbesetzter Kirche nur für sie. Doch da mischt sich im Roman der »allwissende Erzähler« ein, der vom Autor gebraucht wird und, wie sich zeigt, von einflussreichen Personen in der DDR gefürchtet (denn »eine allgemeine Allwisserei kann nicht geduldet werden«), und verteidigt Linus Cord: »Man zeihe ihn nicht der Spökenkiekerei! Die Zeit, der Ort, mit denen er Berührung hatte, waren nicht frei von gespenstischen Elementen.«

Andere hätten Angst gehabt, nicht Cord, dieses tapfere Schneiderlein, dem Riesen eher Spaß bereiten. Die Verwirrspiele, die sie mit ihm treiben – der Leser möge sich auf einiges gefasst machen –, schmeicheln ihm sogar. »Cord staunte über Cord und über das, was ihm zustoßen konnte.« Wobei er nicht wusste, was folgen würde. Nach dem Eingriff in die Ruhe ein Angriff auf die Würde? Eins war klar: Seinem Wunsch nach einem »Voneinanderabsehen« war nicht stattgegeben worden. Er müsse verstehen, dass es dieser »Institution ... bei Strafe ihres Untergangs schier unmöglich sei, von irgendetwas abzusehen«, wird ihm erklärt. »In Ihren Kreisen sagt man – ist das von Hermlin, ist das von Bierce?: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. In unseren Kreisen sagt man: Ein Kontakt ist ein Kontakt ist ein Kontakt.« Aber war das ganze denn ernst zu nehmen, so »überanstrengt und überaufwendig«, mit einem »Überschuss von Logistik bei gleichzeitigem Mangel an Logik«? »Drei Kanonen und ein Spatz«?

Da sitzt jedes Wort. Und in jedem Moment scheint schon der ganze Text zu stecken, hat der Meister alle Handlungsfäden in der Hand, um sie in seinem Erzählteppich neu zu verknüpfen. Dessen Ornamentik war von Anfang an in seinem Kopf, doch das Publikum schaut auf seine Hände und sieht sie noch nicht. Beobachtet, wie Cord in ein Abenteuer nach dem anderen gerät. Ist das nicht übertrieben, wird sich mancher fragen. Und was ist am Ende überhaupt geschehn? Kant, geübt in hintersinnigem Formulieren, stellt es Lesern frei, wie weit sie ihm – auch im Sinne ihres eigenen Seelenfriedens – auf seinem Gedankenweg folgen wollen.

»Ein zur Groteske getriebenes Spiel um Einfluss, Beschränktheit und Arroganz eines Machtapparats«, nennt der Aufbau-Verlag das Buch. Und das von einem Schriftsteller, der als Funktionär diesen Staat mitgetragen hat und von dem viele Leser eine bedingungslose Verteidigung der DDR erwarten. Aber ist das, was Cord widerfährt, denn verteidigungswert? Dass der Kalte Krieg damals auf einem Höhepunkt war, mag mancher einwenden, auch dass Geheimdienste weltweit agieren. Nackte Gewalt anderswo, da sei mit Cord doch freundlich umgegangen worden. Zitat aus dem Roman: »Ums Leben ging es längst nicht mehr im geistigen Leben, um ein unbehelligtes Leben schon.«

Die Anerkennung dieses Lebensrechts zieht – die Handlung weiterdenkend – Überlegungen nach sich, warum scheitern musste, was so hoffnungsvoll begann. Man denkt an den Mauerbau, von dem Cord nichts ahnt, den (notgedrungen oder nicht) ständigen Kampf nach außen und innen zur Machtsicherung in einem Staat, in dem es kein Oben und Unten mehr geben sollte. Es war doch eine Gesellschaft erstrebt, in der, laut Marx, die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Stattdessen Überwachung bis in die Privatsphäre hinein.

Dass es so mit dem Sozialismus nichts werden würde, lange hat sich unsereins darüber hinweggetäuscht. Welch Ironie: Während Linus Cord wieder anhebt, sich über Hermlin und Bierce Gedanken zu machen, über den Umgang beider Autoren »mit verspäteten Einsichten und heroischen Illusionen«, schiebt er von sich weg, was ihm widerfahren ist, fühlt er sich wohlgemut als freier Mann.

»Ich will, wie lustig von mir, Herr meines Lebens sein«, heißt es in Kants Roman »Okarina«. Dessen Thema setzt sich hier fort. Wer sich in voller Verantwortung einbringen will in den kollektiven Vorgang der Errichtung einer neuen Gesellschaft, wie kann der sich Freiheit bewahren, die mehr ist als Einsicht in die Notwendigkeit? Müsste er nicht wählen zwischen dem einen und dem anderen? Aber Kants Charaktere wollen, auf faustische Weise, nun mal alles haben und geben sich, auf faustische Weise, der Selbsttäuschung hin. Wobei Selbsttäuschung, man unterschätze das nicht, mitunter die einzige Möglichkeit ist – siehe Hermlin und Bierce, wo es selbst im Tode noch geschieht – sich wenigstens im Geiste nicht zu beugen, seine Ideale zu behaupten, allem zum Trotz.

Und da es nun schon einmal ins Spiel gebracht ist, soll auch das Mädchen bei Gertrude Stein nicht vergessen sein. »Rose is a Rose is a Rose« hat es voll Lebensmut und Zuversicht in einen Baumstamm geritzt. »Ich bin Rose meine Augen sind blau/ Ich bin Rose und wer bist du genau/ Ich bin Rose und besonders beim Singen/ Bin ich Rose vor allen Dingen.«

Kant ist Kant ist Kant. Von jemandem eine Kennung verpasst zu bekommen, dagegen kann man sich nur wehren, indem man sich selber eine Kennung gibt.

Hermann Kant: Kennung. Roman. Aufbau-Verlag. 250 S., geb., 19,95 €.

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