Karlsruhe stoppt Datenkraken

Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in seiner jetzigen Ausgestaltung verfassungswidrig

  • Dirk Farke
  • Lesedauer: 3 Min.
Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes erklärte die Regelungen der Vorratsdatenspeicherung in ihrer jetzigen Form als nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren. Die größte Verfassungsbeschwerde in der Bundesrepublik war damit erfolgreich.

Die Spannung war groß, nachdem sich fast 35 000 Menschen in einer Massenklage gegen die massenhafte Speicherung von Telefon- und Internetdaten gewehrt hatten. Und tatsächlich beanstandeten gestern die Karlsruher Richter nur wenige Wochen nach ihrem Urteil zu den grundgesetzwidrigen Hartz-IV-Regelsätzen ein weiteres Mal die Arbeit der Bundesregierung – und stoppten die 2008 in Kraft getretene Vorratsdatenspeicherung.

Das Gesetz zur Speicherung der Telekommunikationsdaten aller Bürger sei »ein besonders schwerer Eingriff in das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses«, erklärte der scheidende Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier in der zweieinhalbstündigen Urteilsbegründung. Bei der Speicherung handele es sich »um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt«. Die bisherigen Regelungen seien daher insgesamt verfassungswidrig und nichtig. Alle Vorratsdaten, die bisher erhoben wurden, dürfen zur Strafverfolgung nicht genutzt und müssen ersatzlos gelöscht werden, ordnete der Erste Senat an.

Die anlasslose sechsmonatige Speicherung von Telekommunikationsdaten sei ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und schüchtere die Bürger ein. Das bisherige Gesetz genüge nicht den »hohen verfassungsrechtlichen Transparenz- und Rechtschutzanforderungen«. Die Karlsruher Richter machten deutlich, dass die kritisierten Regelungen weit über die in nationales Recht umzusetzenden EU-Richtlinien hinaus gehen. Eine Datennachfrage, zum Beispiel der Geheimdienste, bedürfe einer konkreten Begründung, heißt es im Urteil weiter.

An ein zukünftiges Gesetz, das den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht, stellen die Verfassungshüter besonders hohe Anforderungen. Nur Telekommunikationsunternehmen, nicht aber der Staat selbst, dürften die Daten sammeln. Die Sicherheit der gespeicherten Informationen müsse stets gewährleistet sein. Auch sind Betroffene davon zu unterrichten, wenn ihre Daten übermittelt werden.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die mit zu den Klägern gehörende Bundesjustizministerin der FDP, begrüßte das Urteil. Es werde den Spielraum für weitere Datensammlungen auf EU-Ebene einschränken, erklärte sie. Dagegen scheint Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht so glücklich mit der Entscheidung zu sein. Das Karlsruher Urteil wirft nach ihrer Ansicht neue Probleme für die Sicherheitspolitik auf. In einer Sitzung der Unions-Bundestagsfraktion habe die Kanzlerin gestern auf das »Vakuum« hingewiesen, das durch die Löschung der bisher gespeicherten Daten entstehen werde, berichtete dpa.

Freude herrschte dagegen bei den Klägern des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung, dessen Beschwerde von tausenden Bürgerinnen und Bürgern mitgetragen wurde. Die Initiative fordert nun, die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung aufzuheben, die den Staaten eine Speicherung vorschreibt. Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht diese Richtlinie nicht beanstandet und damit die verdachtslose Speicherung unter strengen Auflagen für zulässig erklärt. Deshalb sei das Karlsruher Urteil kein Grund zum Jubel, erklärte der rechtspolitische Sprecher der LINKEN, Wolfgang Neskovic. Es widerspreche »dem Sinn und der historischen Funktion der Grundrechte«. Seite 4

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