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Wie »verwerflich« ist »sittenwidrig«?

Arbeitsagenturen sollen Niedriglöhne auf Staatskosten aufspüren – doch das System hat Lücken

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit Januar hält die Bundesagentur für Arbeit ihre Lokalstellen an, gegen Lohndumping gegenüber ALG-II-Aufstockern vorzugehen. Wie engagiert das geschieht, ist aber den Beamten vor Ort überlassen – wie beispielsweise in Stralsund.

»Ich bin ja nicht die Politik, nur die Verwaltung«, sagt Peter Hüfken. Dennoch hat der Geschäftsführer der ARGE Stralsund zuletzt Schlagzeilen bei einem Thema gemacht, das zu den Aufregern zählt: Sozialbetrug – allerdings auf Arbeitgeberseite. Seit Hüfken im Januar einen Pizzabäcker vor den Kadi brachte, der Mitarbeitern minimal 1,32 Euro die Stunde gezahlt und sie ansonsten aufs Amt geschickt hatte, ist zumindest im Nordosten das Thema Lohndumping bei ALG-II-Aufstockern sehr präsent.

Als bundesweit erste ARGE hatte Stralsund 2009 damit begonnen, bei Aufstockern genau auf die Löhne zu schauen. In insgesamt 32 Fällen konnte Hüfken bereits Nachforderungen über 55 000 Euro durchsetzen. Und er macht weiter: Er habe »50 bis 100« potenzielle Fälle auf dem Tisch, neue Verfahren würden vorbereitet, die Unternehmen seien bereits angeschrieben. Es gehe dabei etwa um eine Bäckerei, einen Gastronomiebetrieb, einen Lebensmittelmarkt und eine Pension.

Das Beispiel der kleinen ARGE im Nordosten zeigt, dass es einen Schatz zu heben gibt für die Behörden. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat das, wie sie allerdings erst im März bekanntgab, seit Januar begriffen und hält ihre Dependancen an, bei Aufstockern ab einem Stundenlohn von drei Euro auf Lohndumping zu »prüfen«, erklärt Anja Huth von der BA in Nürnberg. Die relativ niedrige Prüfschwelle, die einige Kritik auf sich gezogen hat, erklärt sie damit, dass »es durchaus Tarifverträge gibt, die 3,40 oder 3,70 Euro als Stundenlohn festlegen«. Man wolle und könne sich nicht durch eine höher angesetzte Prüfschwelle für Lohndumping in das Tarifsystem einmischen.

Vor Ort kann die Schwelle zum »Lohndumping« allerdings deutlich über drei Euro liegen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat vergangenes Jahr die »Zweidrittel-Regel« formuliert: Löhne, die um mehr als ein Drittel hinter dem »ortsüblichen« Niveau zurückbleiben, sind sittenwidrig. Das Dortmunder Sozialgericht hat ebenfalls 2009 geurteilt, dass dort bereits 4,50 Euro als Dumping einzustufen seien. Die ARGE durfte einer Frau, die sich geweigert hatte, für diesen Lohn bei einem Textildiscounter zu arbeiten, nicht die Bezüge kürzen.

Ab der Drei-Euro-Schwelle aber sei eine Prüfung nun überall »verbindlich« für die Jobcenter vor Ort, sagt Anja Huth. Ihnen sei eine Handreichung zur Verfügung gestellt worden, die Indizien für Lohndumping sammle, das rechtliche Vorgehen aufzeige und Musterklagen zur Verfügung stelle.

Allerdings räumt die BA-Sprecherin auch Schwächen ein. So müssten die lokalen Jobcenter über ihre Anstrengungen gegen Dumping-Unternehmer in den regelmäßigen »Dialogen«, mit denen die Bundesagentur ihre Filialen steuert, nicht berichten. »Wir gehen davon aus, dass das umgesetzt wird«, so Huth. Konkrete bundesweite Informationen über das lokale Vorgehen gegen Lohndrückerei auf Staatskosten habe die Bundesagentur daher nicht: »Es gibt da keine zentrale Statistik.«

Ebenfalls fehle, klagt Peter Hüfken, eine wirklich klare Rechtsprechung, trotz des BAG-Urteils. Neben dem Nachweis des Verstoßes gegen die Zwei-Drittel-Regel forderte das Stralsunder Arbeitsgericht zur Feststellung einer sittenwidrigen Lohnabrede den Nachweis von »subjektiven Voraussetzungen des Lohnwuchers oder eines wucherähnlichen Geschäfts«. Das Gericht folgte dabei einer Rechtssicht, nach der ein »wucherähnliches« und damit nichtiges Geschäft dann vorliegt, »wenn der Wert der Leistung annähernd doppelt so hoch wie derjenige der Gegenleistung ist.«

Das ist laut Gericht bei dem Pizzabäcker, dessen mündlich vereinbarte Entlohnungen variierten, aber nicht durchgehend der Fall gewesen. Deshalb wurden der ARGE statt der geforderten 11 000 nur 6600 Euro zugesprochen. Hüfken reicht das nicht, er ist vor dem Landesarbeitsgericht in Berufung gegangen. »Es muss grundsätzlich geklärt werden, wann von der subjektiven Verwerflichkeit auszugehen ist«, sagt er. »Es kann nicht sein, dass der Arbeitgeber bei 50 Prozent plus eins auf der sicheren Seite ist.« Mit dieser Klärung wäre Hüfken dann doch Politiker – zumindest ein bisschen.

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